: Freiheit statt Hochsicherheit
In einer fulminanten Polemik warnt Heribert Prantl vor dem Untergang des liberalen Rechtsstaats. Nur: Im rhetorischen Tremolo drohen selbst berechtigte Einwände verschütt zu gehen. Ihm fehlt, was er an Otto Schily vermisst: das richtige Maß
von STEFAN REINECKE
Nach dem 11. September hat Rot-Grün, namentlich Otto Schily, im Sauseschritt neue Sicherheitsgesetze durch das Parlament gebracht. Einen fetischisierten Sicherheitsbegriff, zu viele Rechte für staatliche Organe kritisierten Bürgerrechtsaktivisten. Für den Wahlkampf scheint das Thema „innere Sicherheit“ bis jetzt keine große Rolle zu spielen. Wohl auch weil Rot-Grün, allen voran eben Schily, damals den Eindruck machte, unverzagt zu handeln. Heribert Prantl, linksliberaler Leitartikler der Süddeutschen Zeitung, hat den Stand der Dinge bei der inneren Sicherheit begutachtet und ein vernichtendes Urteil gefällt: „Der 14. Dezember 2001, als der Bundestag eine Kaskade von neuen Sicherheitsgesetzen verabschiedete, markiert die Gründung eines neuen Staatstypus: des Präventionsstaates.“ Zu den Kennzeichen dieses Staates zählt, dass er die Trennung zwischen Polizei, die öffentlich kontrolliert wird, und Geheimdiensten, die nur unzureichend parlamentarisch kontrolliert werden, aufgibt.
Dieser Staat verdächtigt und belauscht seine Bürger – alles mit der fadenscheinigen Begründung, dies diene der Gefahrenabwehr. Das neue Frühwarnsystem, so Heribert Prantl, behandelt jeden Bürger als möglichen Täter.
Die Regierung hat damit den Fehler des Deutschen Herbstes wiederholt. Statt die konkrete Gefahr ins Auge zu fassen und vorhandene polizeiliche und gesetzliche Möglichkeiten selbstbewusst anzuwenden, hat sich der Staat wie damals, von der RAF, zu überflüssigen, gefährlichen Gesetzesverschärfungen hinreißen lassen. Die Telefonüberwachung hat einen Schwindel erregenden und mit keinem anderen westlichen Staat vergleichbaren Umfang angenommen. Die Balance von Sicherheit und Freiheit ist dahin, der liberale Rechtsstaat in seinem Wesenskern verletzt, so der Befund.
Dieses Versagen geht auf das Konto von Rot-Grün. Niemand verkörpert es so wie der vom RAF-Verteidiger zum SPD-Rechten gewandelte Otto Schily. Im Jahr 1998 hatte er als Abgeordneter noch die Revision der RAF-Gesetze gefordert – von der er als Innenminister nichts mehr wissen wollte. Prantl widmet ihm ein eigenes Kapitel, geschrieben mit jener liebevollen Boshaftigkeit, die aus echter Enttäuschung wächst.
„Die Terroristen haben sich der Schaltzentralen der westlichen Demokratien bemächtigt, sie beherrschen die Apparate und Braintrusts, in denen Recht produziert wird, sie verseuchen den Geist der Gesetze“, schreibt der Autor. Glaubt er das wirklich – oder schreibt er es nur, weil es scharf und entschlossen klingt? Dies ist eine von vielen Hyperbeln dieser Polemik, in der das wohl abgewogene Urteil zugunsten der steilen Formulierung auf der Strecke bleibt. Wer diese Streitschrift liest, mag den Eindruck haben, dass er in einem fast totalitären Staat lebt – seltsam nur, dass man das bislang noch nicht am eigenen Leib bemerkt hat. Diese Kluft, diese Glaubwürdigkeitslücke, resultiert aus Prantls Stil, in dem die griffige Metapher und die zugespitzte Meinung dominieren, während die Fakten etwas einsam wirken und Gegenargumente nicht zu existieren scheinen. Dem Buch fehlt es nicht an Streitlust, aber an Diskursivem, an Ambivalenz sowieso. Das Bild ist nicht nur dunkelgrau, sondern tiefschwarz.
In diesem Gemälde fehlt einiges: etwa dass es in Deutschland nach dem 11. 9. keine nennenswerten Ressentiments gegen und Angriffe auf Muslime gab, dass die deutsche Gesellschaft eben nicht so hysterisch wie 1977 reagierte. Im Gegenteil. Den Terroranschlag von Djerba hat das öffentliche Bewusstsein lakonisch wahrgenommen, so wie ein Unglück, wie einen bedauerlichen Flugzeugabsturz.
So schadet Prantls Verve seiner Sache eher, ja im rhetorischen Tremolo droht die berechtigte Kritik verschütt zu gehen. Denn Eile und Umfang der Antiterrorgesetze waren vollkommen übertrieben. Mehr Rechte für die Geheimdienste, Regelüberprüfung bei Visaanträgen – alles getreu der Formel: weniger Bürgerrechte gleich mehr Sicherheit. Dazu gehört auch ein bedenkliches neues Meinungsdelikt: Wer ausländische Terroristen unterstützt, wird bestraft. Ein Gummiparagraf, den der Autor überzeugend geißelt, schon weil der Weg vom Terroristen zum Freiheitskämpfer oder zum Staatsmann oft kurz ist. Mit diesen Gesetzen (die, den Grünen sei Dank, zumindest auf fünf Jahre terminiert sind) wird es im besten Fall gehen wie mit dem großen Lauschangriff. Der wird, so Prantl, kaum angewandt: zu aufwändig und ineffektiv.
Am überzeugendsten liest sich dieses Buch, wenn die Metaphern- und Meinungsmaschine mal Pause hat, die Anklägerrobe im Schrank bleibt und sachlich erwogen wird, welche Rasterfahndung vernünftig und vertretbar ist und welche nicht. Oder wenn die in Vergessenheit geratene Idee der Resozialisierung von Straftätern wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird. Denn die „grassierende Rechtsstaatmüdigkeit“ (Prantl) wurzelt darin, dass sich die Liberalen nicht mehr trauen, ihre eigenen Erfolge zu feiern und zum Beispiel die Resozialisierung zu verteidigen. Das ist eine sympathische Idee, auch wenn sie ein bisschen wie Pfeifen im Wald klingt.
„Die Autorität des Rechts als ruhender Pol im gesellschaftlichen Wandel ist dahin. Nach jedem Aufsehen erregenden Verbrechen, nach jedem Attentat wird das Recht von neuem in Frage gestellt.“, heißt es im Schlusskapitel melancholisch. So ist es. Aber ist das die Schuld zaudernder Liberaler oder vom rechten Weg Abgewichener wie Schily? Es ist wohl eher das Schicksal aller ruhenden Pole in einer entfesselten, massenmedial geprägten Demokratie, in der alles und jedes Gegenstand popularisierter Kritik wird.
Doch Selbstreflexionen, in denen sich der Blick kurz weitet, sind in diesem Text selten, zu selten. Meist herrscht ein strenger Ton der Warnung und Mahnung. „Wer die Entwicklung des Strafrechts der vergangenen zwanzig Jahre verfolgt, dem fällt es nicht schwer, den schlimmsten Fall zu prognostizieren“, liest man auf Seite 111. Nein, den schlimmsten Fall vorher zu sagen, fällt diesem Autor nicht schwer – im Gegenteil: Er scheint geradezu darauf erpicht zu sein, kein denkbares Schreckensszenario auszulassen. So antwortet Prantl auf die Ideologen der Sicherheit mit einer Selbstinszenierung als unerhörte Kassandra. Doch in dieser Rolle geht die Idee des Liberalen nicht auf. Dieser Kritik fehlt, was Heribert Prantl bei den Sicherheitsgesetzen von Schily und Co. zu Recht vermisst: das richtige Maß.
Heribert Prantl: „Verdächtig, Die Politik der Inneren Unsicherheit“, 160 Seiten, Europa Verlag, Hamburg 2002,12,90 €
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