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Das Märchen ist alle

Bohren, Bimsen und Brennen im Unterleib vermiesen Theaterfreude

Ein Blasenkatarrh ist ein Blasenkatatharrh ist ein Blasenkatatharrh …

Ein Mann namens Zirner legt großen Wert auf die Feststellung, dass er nicht nur am, sondern auch im Theater leide. Er leide also nicht am deutschen Sprechtheater. Genauso wenig wie am deutschen Film, an der deutschen Literatur, an der deutschen Küche oder am allgemeinen Sinnverlust. Er räume allerdings ein, dass es oft ganz anders aussehe, ja dass es ihn gemeinhin gleich mehrmals pro Vorstellung und bisweilen schon vor Beginn derselben panikartig heraustreibe aus dem von Zirner doch grundsätzlich so geliebten Theater. Selbst im Kreise Wohlmeinender schwinde zunehmend die Bereitschaft, seine Bekenntnisse zur Bühne, zum Ausdruckstanz, zum europäischen Kunstfilm, ja zum abendländischen Wertekanon überhaupt, für voll zu nehmen.

Dabei sei das Ganze lediglich ein von ihm weiß Gott nicht zum ersten Mal berichtigtes Missverständnis, genauer gesagt ein chronischer Blasenkatarrh. Und ein Blasenkatarrh ist ein Blasenkatatharrh ist ein Blasenkatatharrh ist ein Blasenkatarrh, um mit Gertrude Stein zu reden. Das sollte eigentlich auch dem hartleibigsten Sitznachbarn begreiflich sein. Doch er habe erfahren müssen, dass Hinweise auf die Gründe seiner temporären Absenz, all die Einlassungen und Entschuldigungen, das Anführen abgewogener Argumente sowohl wie die verzweifelt vorgetragene Polemik, ja selbst das Referieren medizinischer Fachliteratur nebst dem schon mehr als kopf- und heillosen Angebot, die Analyse einer Urinprobe im engeren Bekanntenkreis öffentlich zu machen, nichts, aber auch rein gar nichts gefruchtet hätten. Vielmehr sei es so, je vehementer der Harn und damit die Rechtfertigungen aus ihm herausdrängten, und das täten sie angesichts seiner zerrütteten Nerven mittlerweile bei jeder unpassenden Gelegenheit, desto rasanter verfalle die Zirner’sche Gesamtreputation.

Und so seien die Ereignisse gleichsam schicksalhaft auf jenen traurigen Tiefpunkt zugesteuert, von dem er nun berichten wolle und müsse.

Man gab Shakespeares „Wie es euch gefällt“. Anfangs sei der Abend fast störungsfrei verlaufen. Abgesehn von einem leichten Ziehen in der Blase. Das aber habe Zirner, der sich zwei Tage lang jeder Nahrungs- und Getränkeaufnahme enthalten hätte, durch einfache Kontraktion der Schließ- und Oberschenkelmuskulatur in Schach gehalten. Damit wäre es jedoch in der 7. Szene des 2. Aktes vorbeigewesen, just als der Höfling Jacques gerufen habe: „… dann werden wir von Stunde zu Stunde faulen und faulen, und dann ist das Märchen alle“. Bei diesen Worten sei er von dem auf der Bühne versammelten Personal eindeutig und in schamlosester Weise fixiert worden, schwört Zirner, was ihm hinterher natürlich wieder niemand hätte glauben wollen. An die Folgen erinnere er sich jedoch nur noch mit Grausen: In der Harnblasenschleimhaut habe ein solches Bohren, Bimsen und Brennen angehoben, dass erst Zirners Unterleib, dann das Gesicht, am Ende der ganze Mensch irgendwie verrutscht und im Gestühl buchstäblich wie von einer höheren Gewalt zusammengefaltet worden sei. All dies hätte man auf den Plätzen neben ihm mit höchstem Missfallen zu Kenntnis genommen, diesem auch böse zischend und handgreiflich Ausdruck verliehen, und zwar mit so geballter Infamie, dass die Flucht auf die Herrentoilette ihm nicht einmal mehr eine vorübergehende Erleichterung verschaffen konnte. Obwohl er dort zwei Kulturredakteure getroffen haben will, die mit dem Leeren eines Taschenflakons beschäftigt gewesen seien, diese Tätigkeit aber sofort unterbrochen hätten, um ihm, Zirner, ein Urteil über die Geschehnisse im Saal abzunötigen, weil ihnen als professionellen Kritikern zu diesem ganzen Affentheater längst nichts mehr einfiele.

Zirner, sagt Zirner, habe sich nur unter Aufbietung der allerletzten Kräfte in eine Nasszelle retten können, wo er regelrecht zusammengebrochen sei. Gepeinigt von Scham, Weltekel und Harnblasenbrand habe er schluchzend auf der Klobrille gehockt und sich erst am Ende der Vorstellung wieder im Foyer unter seine Bekannten gemischt. Dass man sein Bedauern dortselbst nicht nur schlicht ignorierte, sondern ihn obendrein des Banausentums bezichtigte, um ihm sogar den abschließenden gemeinsamen Schoppen zu verweigern, nun, sagt Zirner, damit habe er fast schon gerechnet. Verzeihen könne er das nie.

MICHAEL QUASTHOFF

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