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Supermarktheißkalt

Lyrik goes Drama: Karin Beiers Urinszenierung von Albert Ostermaiers „99 Grad“ in den Münchner Kammerspielen

„99 Grad“, sicher nicht Ostermaiers stärkster Text, bräuchte mehr Konzentration

Dass man versucht wäre, den Mann fast mal zu verteidigen, wer hätte das gedacht? Der Sonnyboy der Lyrik und der Feuilletons, der meistgespielte deutschsprachige Autor dieser Saison hat einen Text geschrieben, der so sehr Theatertext ist, wie ihn ein Wortedrechsler und Episoden-Jonglierer nur eben zu schreiben vermag. Ein Auftragswerk für die Münchner Kammerspiele – und das Ergebnis seiner Vertheaterung wirkt ganz verteufelt so, als hätten Uraufführungsregisseurin Karin Beier und Albert Ostermaiers Sciencefiction-Krimi (oder ist es eher eine Endzeitposse über den Neuen Markt?) „99 Grad“ auf Anhieb nichts miteinander zu tun haben wollen. Sie müssen sich begegnet sein – der eine im Zustand der explosiven Überhitzung, den der Titel beschreibt, die andere kühl und unnahbar wie die im Stück vorherrschende Atmosphäre. Vielleicht war’s auch umgekehrt; getroffen jedenfalls haben sie sich nicht.

„Ein Sonnenstudio“, heißt es im Text zu Bild 1, „desinfizierte Luft, aseptischer Boden“. Oder auch: „Designer-Hotel – blendamedweiß“. In Bild 20 dann fällt „Hagel, faustgroße Körner, die der Himmel gegen die Fenster schleudert, mit denen er die Häute der Autos zu bunten Mondlandschaften mutieren lässt“. Diese Skizzen wie für Film-Stills sind nicht nur sprachlich das Beste im Stück, die in ihrem Gefolge auftretenden Figuren wirken dann immerhin gleich zu etwas zugehörig, wenn auch nirgendwo zu Hause.

Bild 1: Katharina Schubert steht kerzengerade auf einem Gitter, aus dem Kältenebel wallen. Ihr nackter Körper sieht blau und kalt aus, dann erfährt man, dass ihre Figur Theresa heißt und für Geld unerprobte Medikamente schluckt. Theresa ist am Ende dem Tode nah wegen einer Pille, mit der Nolk (Michael Wittenborn) und sein noch schuftigerer Manager Dean (Wolfgang Pregler) allen Unbelehrbaren ewige Treue verkaufen wollen. Jorn – investigativer Journalist, aber wahrscheinlich käuflich – ist aus diesem Grund Theresas Geliebter, so wie es Taxifahrer Kolja und Bodyguard Vadim aus anderen Gründen sind. Dann gibt es noch Xavier (Paul Herwig), in den sich Theresa nach dem Einwurf der Treuepille verliebt, seine Freundin Evelyn und die völlig überflüssige „Event-Agentin“ Vera. Alles klar bis dahin? Ness schließlich ist die Freundin von Nolk, aber eigentlich eine Art Industriespionin.

Wie Nina Kunzendorf zu Beginn im goldberankten Kleid ihre schönen Arme zeigt und ein Geheimnis wenigstens andeutet, da ist man ihr unendlich dankbar – es gibt noch Hoffnung, dass im Laufe des Abends ein Gefühl ausbrechen könnte aus all den blank polierten Schalentieren. Hoffnung, dass man auch selber fühlen dürfte – wenigstens ein bisschen. Doch dann meldet sich erst kurz vor Schluss, der in München darauf hinausläuft, dass Nolk sich selbst die Liebespille verpasst, diese Hoffnung wieder: Theresa zeigt ihrem Peiniger, wie man sich mit angefeuchtetem Finger Asche von der Kleidung stippt. Das ist ganz schlicht und menschlich. Für (Mit-)Gefühl ist es da freilich längst zu spät.

Natürlich ist das Stück kein Fall für psychologischen Realismus. Es treten ja Thesen auf, Einsame, Sehnsüchtige, Machtgeile, Zyniker und Börsen-Junkies. Für deren angenommene Kälte und gleichzeitige Überhitzung findet Ostermaier Symbole zuhauf – eine selbstgenügsame Bescheidwisserei wie mit den Namen Brom und Silber in dem früheren Stück „The Making Of. B.-Movie“. Und wie weiland bei Wilfried Minks gibt es auch bei Beier Leuchtschrift auf dunklem Grund: die Hilferufe und Appelle einer im Herzen stumm gewordenen Gesellschaft.

Beiers Hauptverdeutlichungsmittel aber ist das Bühnenbild (Thomas Dreißigacker): Ein Supermarkt voller Kühlschränke, in dem alle Welt ihre Sucht nach Konsum und Abkühlung befriedigen kann. Ein ochsenblutroter Fahrstuhl spuckt die Menschen gleich in Massen auf ein gelb-grünes Einheits-Plastikspielfeld – abwaschbare Grundvoraussetzung für eventuell zu erwartende Spei- und Sudel-Exerzitien, die dann aber ausbleiben. Nur der Reitdelphin an der Rampe fängt irgendwann abrupt zu kotzen an. Das sind so Einfälle wie jener mit den silikongepolsterten Krankenschwestern im „Casino Klistier“, die den Gästen Analdrainagen verpassen: „Besudeln Sie uns bald wieder.“

Gags: Sie passen ins grelle Bild – und ein angenehm homogenes Ensemble macht sie wohl besser, als sie sind. Wenn sie auch (noch) mehr exekutiert als ausgelebt werden. Ein Gag aber hat das Zeug zu einem kleinen Kabinettstück: Wie Wittenborn Nolks Albtraum im Fahrstuhl hinzittert und -bibbert, das ist groß. Und findet wie so vieles in der Enge einer Kühltruhe statt.

„99 Grad“ ist sicher nicht Ostermaiers stärkster Text und hätte konzentriert werden müssen – ein paar irrlichternde Figuren gäbe er sicher her. Seine Versupermarktisierung aber kürzt ihn herunter auf eine allgemeine Zeitgeistigkeit. Bleibt ein „Verlorene stürzen sich in den Kosum“-Stück dieser Zeit, irgendeines, ohne besondere Merkmale. Und bleibt das Rätsel: Warum?

SABINE LEUCHT

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