: Quote für Kriegsherren und Frauen
aus Kabul SVEN HANSEN
Die große Versammlung tagt unter dem weiten, weißen Himmel eines deutschen Bierzelts. Für die Stoffbahnen, zwischen denen früher auf dem Münchner Oktoberfest die Maßkrüge aneinander stießen, hat die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) gesorgt. Das Zelt steht auf dem schwer bewachten Gelände des Polytechnikums der afghanischen Hauptstadt Kabul. Das von einem 3.000 Meter langen Sicherheitszaun umschlossene Gebiet kann erst nach Passieren eines Metalldetektors und einer ausführlichen Körperkontrolle betreten werden. Die erste afghanische Brigade, die von der internationalen Schutztruppe Isaf ausgebildet wurde, sowie Isaf-Soldaten, bewachen das Gelände und die umliegenden Berge. „Ernsthafte Bedrohungen gibt es aber nicht“, meint der britische Isaf-Sprecher Jol Fall, „eher rechnen wir mit Versuchen, die Versammlung zu stören.“
Im Zelt versammeln sich heute 1.550 Delegierte zur Loja Dschirga. 6 Tage sollen sie beraten, den Präsidenten für eine 18-monatige Übergangszeit und vielleicht auch eine Übergangsregierung bestimmen. Eine unabhängige Kommission hat die Versammlung aller Ethnien und gesellschaftlichen Gruppen vorbereitet und in den letzten Wochen landesweit Delegierte wählen lassen. Lakdar Brahimi, UN-Sonderbotschafter für Afghanistan, verwahrt sich gegen den Eindruck, die Wahl des bisherigen Interimsregierungschefs Hamid Karsai stehe schon fest. „Die Entscheidung fällt erst hier“, sagte Brahimi am Samstag.
Eine der Delegierten ist Saleha Mehersad. Die ein grünes Kopftuch und ein schwarzes Kleid tragende 42-jährige Paschtunin ist Mutter von fünf Kindern und seit kurzem Direktorin einer Mädchenschule in Saranj, der Hauptstadt der Provinz Nimrus an der Grenze zum Iran. Erschöpft von der langen Reise, ruht sie sich unter einem Zeltdach aus. Mehersad ist eine von nur zwei Frauen aus dieser besonders konservativen Provinz, die dank einer landesweiten elfprozentigen Frauenquote zur Loja Dschirga entsandt wurde. „Wir erwarten, dass es eine Loja Dschirga des Volkes wird“, sagt sie. „Der künftige Präsident sollte keine Probleme mit Frauenrechten haben und demokratisch sein.“
Übergangspremier Hamid Karsai hat vergangene Woche noch einmal deutlich gemacht, dass er eine Wahl zum Staatsoberhaupt annehmen würde. Der 44-jährige Paschtune hat starke Unterstützer. Mit Innenminister Junis Kanuni, Verteidigungsminister Mohamad Qasim Fahim und Außenminister Abdullah Abdullah sprach sich die aus dem nördlichen Pandschirtal stammende mächtigste Regierungsfraktion – die so genannten Pandschiris – für Karsai aus. Sie sind Tadschiken. Auch wichtige Warlords sollen für ihn sein. Karsai unterstützen auch die USA, die EU und die UNO. Er wird ein Führungsamt bekommen. Die Frage ist jedoch, ob er Präsident oder Premierminister wird.
„Staatsoberhaupt könnte auch Exkönig Sahir Schah werden,“ meint die Juristin Humaira Nehmaty, ein Mitglied der Loja-Dschirga-Kommisson. Der 87-jährige Exmonarch war im April nach 29-jährigem Exil nach Kabul zurückgekehrt. Der Paschtune gilt als wichtige Integrationsfigur, da er mit keiner Bürgerkriegspartei liiert ist und es während seiner 40-jährigen Herrschaftszeit eine gewisse Stabilität gab, die heute als „goldene Zeit“ verklärt wird.
„Vielleicht wird Sahir Schah sogar wieder König, aber die politische Macht hätte dann Karsai als Premier“, meint die Usbekin Nehmaty. Vor allem Paschtunen diskutieren die Wiedereinführung der Monarchie, was der Sahir Schah allerdings ablehnt. Damit wollen Paschtunen, die die größte Volksgruppe bilden und zurzeit weniger Macht als die Tadschiken haben, ihren Führungsanspruch unterstreichen. Der von den Pandschiri unterstüzte Paschtune Karsai ist in den Augen mancher nur Fassade dieser Fraktion der einstigen Nordallianz, die eine der berüchtigten Bürgerkriegsparteien war.
Zur künftigen Rolle des Exkönigs sagt Karsai, der sich seinen Freund nennt, nur so viel: „Sahir Schah ist der Vater der Nation.“ Karsais Stellvertreterin, Frauenministerin Sima Samar, meinte gegenüber der taz, mit „Vater der Nation“ sei kein formales Amt verbunden. Abdul Rahimy, der als Mitglied der Loja-Dschirga-Kommisson das Land intensiv bereiste, meint: „In den Provinzen herrscht das Gefühl, dass der Exkönig und Karsai Kandidaten für das Staatsoberhaupt sind. Bei der Loja Dschirga wird es wohl zum Machtkampf kommen.“ Und der Exkönig selbst? „Sahir Schah legt sich leider nicht fest“, sagt das Mitglied einer Delegation, die ihn dieser Tage besuchte. „Aber seine Umgebung will, dass er kandidiert.“ Auch Delegierte, die sich als Vertreter einer Demokratiebewegung begreifen, setzen auf den Exmonarchen als Präsidenten, um die Macht der Pandschiris in der Regierung zu begrenzen.
Unklar ist, worüber die Loja Dschirga genau entscheiden soll. Im Bonner Abkommen heißt es, dass sie über Staatsoberhaupt, Staatsform und Schlüsselpositionen der Regierung bestimmt. Ob darunter nur der Ministerpräsident, dazu einige Minister oder gar das ganze Kabinett zu verstehen ist, wird die Versammlung klären müssen.
Unklar ist auch, ob offen oder geheim abgestimmt wird. Letzeres war in Afghanistan bisher nicht üblich. In diesem Zusammenhang könnte sich eine Entscheidung der vergangenen Woche als fatal erweisen. Unter Druck des UN-Sonderbotschafters Brahimi, des US-Sondergesandten Zalmay Khalilzad und von Karsai selbst revidierte die Loja-Dschirga-Kommission eine frühere Entscheidung und ließ Provinzgouverneure und Militärkommandeure als Delegierte zu, auch wenn sie meist Warlords sind. Der Umgang mit ihnen ist eine Gratwanderung. Schließt man sie aus, riskiert man ihren bewaffneten Widerstand, dürfen sie mitmachen, droht ihre Dominanz und damit die Gefährdung des gesamten politischen Prozesses. Doch während die Kommission, der Unabhängigkeit zugesichert worden war, den Warlords zunächst mutig die Stirn bot, fielen ihr der UN- und der US-Gesandte in den Rücken.
Jetzt hat Karsai zusätzlich 50 Warlords für die Loja Dschirga ernannt. Auf die Frage, ob er damit nicht seine Macht zementiere, spielte er den Vorgang herunter. Es falle bei 1.500 Delegierten nicht ins Gewicht, wenn es 50 mehr seien. Doch bei offenen Abstimmungen dürften nur wenige den Mut haben, gegen die ihre Provinz dominierenden Warlords zu stimmen. Und da viele keine geheimen Abstimmungen kennen, wagen sie das dann vielleicht auch nicht. Schon wurde Abdul Qadir, Gouverneur von Nangarhar, Minister für Städteplanung und mächtiger Warlord aus Dschalalabad, zum Sprecher der 150 Delegierten aus dem Nordosten ernannt.
Experten schätzen, dass ohnehin nur zwischen 60 und 80 Prozent der Delegierten wirklich fair ermittelt wurden. Einschüchterungen und Stimmenkauf waren weit verbreitet. So sagt ein Mitglied der Loja-Dschirga-Kommission zur taz: „Mir selbst wurde abgeraten, in bestimmte Gebiete zu fahren.“ Bis gestern beschwerten sich zahlreiche unterlegene Kandidaten bei der Loja-Dschirga-Kommission über Unregelmäßigkeiten bei der Auswahl der Delegierten. Eine vollständige Liste der Delegierten lag gestern Nachmittag noch nicht vor. In 21 der 381 Distrikte hat schließlich die Loja-Dschirga-Kommission die Delegierten ernennen müssen, weil eine ordnungsgemäße Abstimmung nicht möglich war. Fast alle diese Gebiete werden von Paschtunen dominiert, die sich weit uneiniger sind als die Tadschiken.
In der Loja Dschirga sind die Machtverhältnisse neben den von Warlords dominierten Gruppen unklar. Die Warlords wollen vor allem ihre regionale Macht behalten und befürworten deshalb zum Teil ein föderales System. „Der Großteil der Delegierten lässt sich nur schwer einordnen und hat meist einen regionalen Bezug“, meint der deutsche UN-Diplomat Thomas Ruttig, der die Loja-Dschirga-Kommission berät. Diese Delegierten könnten eine konstruktive Dynamik entwickeln, sofern man sie lässt. So erklärten viele Befragte, dass sie die ethnische Spaltung hinter sich lassen wollten. Symbolisch wurde bei der Einweihung des Loja-Dschirga-Zelts ein Sperrholzpuzzle in den Nationalfarben Grün, Rot und Schwarz zusammengesetzt, das Afghanistan zeigt und seine Einigung demonstrieren soll.
Mit emotionalen Appellen zur Einheit ist auch am heutigen Eröffnungstag zu rechnen, bevor es dann um die eigentlichen Machtfragen geht. Die dürften eher in den mit Sitzkissen ausgestatteten Aufenthaltsräumen der Wohnheime ausgehandelt als bei in Afghanistan unüblichen Kampfabstimmungen im Zelt entschieden werden. Einen Machtkampf dort wollen viele vermeiden.
Offen ist, wie sich der für afghanische Verhältnisse relativ hohe Frauenanteil auswirkt. „Wer hätte vor acht Monaten gedacht, dass 200 Frauen an der Loja Dschirga teilnehmen“, meint Frauenministerin Samar. „Wir wünschen uns zwar noch mehr, aber früher waren es nur eine Hand voll.“
Für Schuldirektorin Saleha Mehersad aus Nimrus ist diese Loja Dschirga erst ein Anfang. Unter den Taliban floh sie mit Mann und Kindern nach Pakistan. Während sie nach dem Sturz der Taliban sofort nach Südafghanistan zurückkehrte und sich an den Wiederaufbau der Mädchenschule machte, blieb ihr arbeitsloser Mann mit den Kindern vorerst im Nachbarland. „Wir Frauen werden für unsere Rechte kämpfen, bis auch eine Frau Präsidentin werden kann“, sagt sie und fügt selbstbewusst hinzu: „Ich würde gern Gouverneurin von Nimrus werden, denn ich weiß, was die Menschen wünschen.“
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