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Das Weiß der Zehenknochen

Ihre „romans policiers“ schreibt sie in der Freizeit, im Hauptberuf ist sie Archäologin:Die französische Krimiautorin Fred Vargas liest heute im Literarischen Colloquium

Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg hat noch nie verstanden, wie andere Menschen das machen: Sich hinsetzen, den Kopf in die Hände stützen und nachdenken. Irgendwann wieder aufstehen, fertig gedacht haben und Bescheid wissen. Er, Adamsberg, kann das nicht. Wann immer er sich vornimmt, bewusst nachzudenken, herrscht Leere in seinem Kopf. Von Gedanken keine Spur und von einer Lösung des Falles schon gar nicht.

Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg setzt eher auf Intuition. Seine Intuition verrät ihm, dass es bei dem scheinbar belanglosen Fall der blauen Kreidekreise, die plötzlich allenthalben in der Pariser Innenstadt auftauchen, um mehr geht als um das Werk eines harmlosen Zwangsneurotikers. Seine Intuition bringt ihn hinter das Geheimnis des gefürchteten Werwolfs, der aus den südfranzösischen Bergen herabgekommen sein soll, um Schafe und Menschen zu morden. Seine Intuition lässt seinen Stellvertreter Danglard, der es eher mit dem analytischen Denken hält, schon mal verzweifeln – aber bisher hat sie Adamsberg noch jedes Mal auf die Spur der skurrilen Verbrecher kommen lassen, mit denen die Autorin Fred Vargas die französische Krimiliteratur seit Anfang der Neunzigerjahre bereichert.

Fred Vargas – Fred wie Frédérique, Vargas wie die spanische Tänzerin, die Ava Gardner 1954 in „Die barfüßige Gräfin“ spielte – ist Archäologin. Ihre rompols, wie sie die Krimis nach dem französischen roman policier nennt, schreibt sie in der Freizeit – um der Gefahr zu entgehen, sich zu sehr auf die Archäologie zu versteifen und dabei zu einseitig zu werden, wie sie sagt. Aber auch bei den Kriminalromanen lässt sich Fred Vargas nicht festlegen, ihr Ermittlerstab ist mit dem Duo Adamsberg und Danglard noch lange nicht erschöpft. Der ehemalige Justizbeamte Louis Kehlweiler etwa ermittelt auch nach seiner Pensionierung auf eigene Faust weiter, genauso der Ex-Flic Vandoosler, dem die drei jungen Historiker Mathias, Marc und Lucien assistieren. Diese „drei Evangelisten“ stecken nach eigenen Angaben ohne Stelle, ohne Frau und ohne Kohle ohnehin so tief „in der Scheiße“, dass sie ebenso gut Kriminalfälle wie historische Fragen lösen können.

Vargas’ Ermittler sind nichts weniger als toughe Meisterdetektive. Der Kommissar, der nicht geradeaus denken kann, und seine Kollegen sind Außenseiter und als solche nicht nur den Erfolg gewohnt – katastrophale Niederlagen im Beruf und im Privatleben gehören dazu: Vandoosler zum Beispiel ist vom Dienst suspendiert worden, weil er einen Mörder hat laufen lassen, dessen Beweggründe ihm allzu einsichtig erschienen waren. Alle Protagonisten von Fred Vargas sind Verkörperungen ihrer These, der Kriminalroman sei nicht dazu da, Ordnung zu schaffen, sondern Unordnung. So ist es auch kein Zufall, dass die rompols oft mit einem kleinen Riss in der eigentlich intakten Ordnung anfangen. Da steht eines Morgens auf einmal ein Baum im Garten, wo abends zuvor noch keiner stand; da schimmert am Fuß eines Baumes auf der Pariser Place de la Contrescarpe plötzlich das Weiß eines einzelnen Zehenknochens.

Wenn irgendwann die Unordnung groß genug geworden ist, kommt die Stunde der intuitiven Ermittler, die sich mit all ihren Sehnsüchten, Träumen und verpassten Gelegenheiten im Gepäck daran machen, der Sache nachzugehen. Und die angesichts der rasanten Entwicklung der Fälle gut daran tun, sich an den wohlmeinenden Rat des Weltkriegshistorikers Lucien an seinen Mittelalterkollegen Marc zu halten: „Teurer Freund, die Erforschung der Exzesse offenbart einem das Wesentliche, das gewöhnlich verborgen ist.“

ANNE KRAUME

Fred Vargas liest heute, 20 Uhr, im Literarischen Colloquium, Am Sandwerder 5, Zehlendorf.

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