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Handlungsballett

Kunstgeschichte ausgeleuchtet, den Zugang zu den Figuren nicht immer gefunden: John Neumeiers „Die Möwe“ nach Anton Tschechow

von MARGA WOLFF

1973 kreierte John Neumeier den Pas de deux Desir, ein Ballett, von dem ein Kritiker damals behauptete, es sei wie ein Stück von Tschechow. So leichtfertig, wie darin sichtbare Bewegung und innerer Impuls auseinander klaffen, könnte dieser Tanz wahrlich beispielhaft für Tschechows komische und gleichzeitig tragische Stimmungsbilder und fehlgeleitete Sehnsüchte stehen.

29 Jahre später hat Neumeier nun die Figuren für diesen Tanz gefunden: Es sind Mascha, die Gutsverwaltertochter, und Medwedenko, der Lehrer, aus Anton Tschechows Schauspiel Die Möwe. Mascha, die an sich selbst und an der Welt leidet, die Konstantin liebt, Teil seiner Kunstwelt sein möchte und dennoch einen anderen heiratet; Medwedenko, dem die Gedanken seiner zukünftigen Frau fremd bleiben, dessen Liebe sie nicht erreichen. Zwei Nebenfiguren, hervorragend getanzt von Joelle Bologne und Peter Dingle, denen der Choreograf jenen exemplarischen Raum des Gefangenseins in der Kluft zwischen erträumtem und realem Leben allein über den Tanz öffnet.

Ansonsten ist Neumeiers neue Kreation Die Möwe, die zum Auftakt der 28. Ballett-Tage uraufgeführt wurde, ein reines Handlungsballett, in dem der Choreograf mehr erzählt als der Autor. Ninas Jahre in Moskau, die Tschechow nicht näher ausführt, lässt Neumeier in bunt glitzernden Varietétänzen Revue passieren. Sensibel und facettenreich tanzt Heather Jurgensen die Wandlung der Hauptfigur, einer Art Hoffnungsträgerin, von der neugierigen jungen Tänzerin und ergebenen Schülerin zu einer Frau, die ohne falsche Illusionen ihren Weg geht. Als Muse und Geliebte des jungen Choreografen Konstantin hatte dieser ihr in seinem experimentellen Ballett den Weg auf die Bretter, die die Welt bedeuten, geebnet. Ein Holzpodest, Theater im Theater, bestimmt das ebenfalls von Neumeier entworfene klare, reduzierte Bühnenbild.

Geht es bei Tschechow um die Erneuerung des Theaters, spielt Neumeier auf die Entwicklung im Tanz in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts an, als das Kaiserliche Ballett und der Ausdruckstanz sich ästhetisch gegenüber standen: Die Hauptfiguren, Nina und Arkadina, stellen hier Tänzerinnen vor, wobei Letztere (Anna Polikarpova), hartnäckig an der Tradition festhält, ihr Fanatismus dabei ins Komödiantische umschlägt. Trigorin, ihr Liebhaber, dem auch Nina verfällt, ist ein erfolgreicher, klassischer Choreograf, Konstantin (Ivan Urban) dagegen ein moderner. Sein Ballett zitiert in kantigen Bewegungen Bauhaus-Elemente, erinnert mit Tänzerpyramiden an Meyerholds Biomechanik. Ein reibungsvoller Mix aus Neumeiers eigenem und kopiertem Vokabular, der zu Evelyn Glennies Improvisationen für Schlagwerk Aufruhr und Aufbruch stimmig vermittelt. Die Musikzusammenstellung aus Kompositionen von Schostakowitsch, Alexander Skrjabin, Tschaikowsky und eben Glennie führt zu einem dramaturgisch schlüssigen Stimmungsbild. Markus Lethinen führte das Philharmonische Staatsorchester leicht und sicher durch die Partituren.

Tänzerisch und musikalisch ist die Möwe ein Erlebnis, choreografisch verharrt sie in einer Zwitterposition: Ähnlich wie Nijinsky beleuchtet sie ein Stück Zeit- und Kunstgeschichte und verliert darüber mitunter einen tieferen und heutigen Zugang zu den Figuren. Neumeier wollte ein zugängliches Ballett schaffen und hat die Möwe praktisch nacherzählt, Text in Tanz übersetzt. Ob er damit sowohl Tschechow als auch seinem eigenen Repertoire nachhaltig etwas hinzugefügt hat, bleibt fraglich.

weitere Vorstellungen: heute und 27.6., 19.30 Uhr, Staatsoper

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