: Von Frauen und Fremden
Es ist das alte Spiel. Die Union will mit Angst Wahlkampf machen und gegen das neue Zuwanderungsgesetz klagen. Geschlechtsspezifische Verfolgung, meint die C-Partei, dürfe nicht als Fluchtgrund anerkannt werden. Warum eigentlich nicht?
von HEIDE OESTREICH
„Dann kommen sicherlich die Fragen gleichge-, äh, nicht gleichgeschlechtliche, sondern ob ich auch, äh, Asylgründe schaffe außerhalb der politischen und der rassistischen Verfolgung, also auch Gründe, wenn aus, wenn andere Gründe, sozusagen also aus dem Geschlecht oder Ähnlichem stattfinden, dass also Frauen, die irgendwie wegen ihres Frauseins, irgendwo verfolgt werden, ob ich denen jetzt ein Asyl, einen zusätzlichen Asylgrund gebe.“ (Edmund Stoiber bei „Sabine Christiansen“ am 21. März 2002)
Ist er einfach nur aufgeregt, der frisch gekürte Unionskanzlerkandidat bei seinem ersten Fernsehauftritt, oder ist Edmund Stoibers Verhältnis zu den Frauen und ihren Fluchtgründen tatsächlich leicht gestört?
Für Letzteres spricht einiges. Denn die „geschlechtsspezifische Verfolgung“, die neben den Frauen auch Homo- und Transsexuelle einschließt, war einer der Kerngründe, weshalb die CDU/CSU das rot-grüne Zuwanderungsgesetz im Bundesrat abgelehnt hat. Wenn die Frauen irgendwie wegen ihres Frauseins bei uns Asyl bekommen sollen, ich bitte Sie … – so ähnlich hat Stoiber es sicher sagen wollen – wo kommen wir denn da hin? Da könnte ja die halbe islamische Welt direkt „in das deutsche Sozialsystem“ einwandern! Und halb Afrika noch dazu, wo es ja die Genitalverstümmelung gibt! Und Homosexuelle auch noch? Schwul zu sein, das kann ja jeder von sich behaupten. Wenn das kein Grund ist, das Zuwanderungsgesetz stoppen zu wollen!
Nur: Bis vor kurzem hat die Union das noch ganz anders gesehen. Eben jener saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der im März dieses Jahres im Bundesrat die Ausländer springflutartig einströmen sah, hatte exakt ein Jahr zuvor ein Konzept erarbeitet, das dem von Innenminister Otto Schily verteufelt ähnlich sah. „Die Behauptung, das Boot sei voll, ist falsch“, verkündete Müller, der Vorsitzende der Zuwanderungskommission der Union, noch im Frühjahr 2001. „Tatsache ist, dass in Deutschland das Boot immer leerer wird.“
Müllers Zuwanderungskonzept diktierte, dass die Politik sich „der Problematik der Opfer nichtstaatlicher Verfolgung bewusst werden“ und deren „Aufenthaltsstatus verbessern“ solle. Auch hatte sich die Fraktion der CDU/CSU zu einem Antrag zum Thema Genitalverstümmelung zusammengefunden. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, „eine Verbesserung des derzeitigen ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus zu erwägen“ – für „Fälle geschlechtsspezifischer Verfolgung“. Innerhalb kürzester Zeit haben Müller und seine Partei eine 180-Grad-Wende hingelegt.
Bei Renée Abul-Ella, Sozialarbeiterin, die in Berlin arabische Flüchtlinge betreut, landet eines Tages B. an, ein dreizehnjähriges Palästinensermädchen aus einem Flüchtlingslager im Libanon. Von ihrer Familie ist sie zu den Onkeln nach Deutschland geschleust worden, weil sie krank sei. Das erklären die Onkel, die mit ihr zur Flüchtlingsberatung kommen. Sie haben einen Asylantrag gestellt, B. habe sich politisch betätigt. Nur wenn man das nachweisen kann, hat man Anspruch auf Asyl. B. kann nichts nachweisen. Sie ist ein verlorenes Kind, das sich krank fühlt. Frau Abul-Ella wird zu ihrem Vormund bestimmt. Sie gehen zu einem arabischen Arzt, der sie untersucht und nichts findet, sagt er.
Einige Wochen später ruft er Frau Abul-Ella an: Das Mädchen sei schwanger. Er sage das erst jetzt, weil sie nun im vierten Monat sei und nicht mehr abtreiben könne – er sei gegen Abtreibung. Die Sozialarbeiterin stellt B. zur Rede. Die bricht zusammen. Nun erzählt sie: Auf dem Weg vom Flüchtlingslager zum Markt sei sie von libanesischen Milizionären in eine Hütte geschleppt und vergewaltigt worden. Sie habe niemandem etwas erzählt. Die Schande. Die Ehre.
Das Mädchen verkörpert in diesen Gesellschaften die Familienehre. Ist sie entjungfert, gar vergewaltigt worden, so ist die Ehre zerstört. Es kommt vor, dass diese Mädchen getötet werden, um die Ehre wieder herzustellen. Das weiß B. Ahnten ihre Eltern etwas? Warum schicken sie das Kind nach Deutschland? Renée Abul-Ella zieht Augenbrauen, Hände und Schultern zugleich in die Höhe: Nicht rauszukriegen. Frau Abul-Ella schreibt die Geschichte der Vergewaltigung auf und schickt sie an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, das über den Asylantrag von B. zu entscheiden hat.
Das kenne man schon, heißt es dort: Das Mädchen sei sicher von einem Jungen schwanger und denke sich nun eine Horrorgeschichte aus, um den Fehltritt zu verdecken. Sie habe Einzelheiten erzählt, hält Frau Abul-Ella dagegen, die könne sich ein dreizehnjähriges Mädchen nicht ausdenken. „Es gibt Hinweise, wenn jemand lügt“, meint sie. Aber B. wird gar nicht angehört. Ihr Antrag – abgelehnt.
Die meisten Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, sagen es nicht, hat Frau Abul-Ella erfahren. Die Ehre. Wer weiß, dass andere für eine erlebte Vergewaltigung oder für außerehelichen Sex umgebracht werden, der überlegt sich gut, ob er dieses Erlebnis preisgibt. „Erst wenn der Abschiebebescheid da ist, dann brechen sie zusammen und erzählen alles. Und dann ist es zu spät“, sagt Abul-Ella. Fünf, sechs Fälle dieser Art hat sie im Jahr.
Asylentscheider müssten eigentlich in solchen Fällen prüfen, ob es eine reale Bedrohung für die Frau gibt. Wenn ja, müsste geprüft werden, ob der Heimatstaat sie schützt. Wenn er das nicht tut, müsste sie eigentlich als Flüchtling aufgenommen werden. So wünschen es sich das Uno-Hilfswerk UNHCR, Pro Asyl, FlüchtlingsanwältInnen. Doch das ist umstritten. Diese „mittelbare“ Verfolgung, bei der der Staat bei einer schweren Menschenrechtsverletzung tatenlos zusieht, stufen einige Gerichte als Asylgrund ein, andere nicht. Frauen etwa, denen in ihrer Heimat die rituelle Verstümmelung der Genitalien droht, werden vom Staat nicht verfolgt, aber auch nicht geschützt. Heute, nach etlichen Kampagnen, erhalten von denen, die deshalb nach Deutschland fliehen, nach Angaben des UNHCR etwa die Hälfte politisches Asyl, die andere Hälfte nicht. Sie dürfen lediglich nicht abgeschoben werden, können aber weder eine Ausbildung machen noch arbeiten.
Sogar wenn ein Staat selbst die Auspeitschung, Steinigung oder die Todesstrafe vorsieht, wenn Geschlechternormen verletzt werden, er diese Gruppen also eindeutig verfolgt, entscheidet eher das Glück als das Recht: Im September 1992 bekam eine Iranerin, die ein uneheliches Kind hatte, vom Verwaltungsgericht Köln Asyl zugesprochen. Sie hätte bei einer Rückkehr in den Iran mit Auspeitschungen oder mit der Todesstrafe zu rechnen gehabt. Im November desselben Jahres lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof einen ähnlichen Fall einer Iranerin ab: Die Frau hätte sich nicht an den herrschenden Sittenkodex gehalten und sei selber schuld.
Langsam nur setzt sich die Empfehlung des UNHCR durch: Geschlechtsspezifische Fluchtgründe wie die dieser Frauen sollten am besten ausdrücklich festgeschrieben werden. Die rot-grüne Koalition hat immerhin in den Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz festgelegt, dass diese Frauen Abschiebeschutz erhalten. Genau diese Klarstellung hatte das Zuwanderungsgesetz verdeutlichen wollen. Für drei Jahre sollten Opfer nichtstaatlicher Verfolgung Ruhe haben, dann werden sie überprüft.
Immer noch hätten die Gerichte zu entscheiden, ob sie etwa Genitalverstümmelung oder staatlich erlaubte Gewalt gegen Frauen tatsächlich als politische Verfolgung werten und Asyl gewähren, oder ob es nur den einfachen Aufenthaltstitel gibt. Mit diesem Status dürften die Betroffenen laut Schily-Gesetz eine Arbeit aufnehmen – natürlich nur in Jobs, die Deutsche und EU-Bürger nicht wollen. Flüchtlinge würden nicht mehr „in die Sozialsysteme“ zuwandern, wie die Union es immer so schön formuliert.
Die Wende der Union wird zelebriert, nicht gerechtfertigt. Wer in der Partei genau die Schily-Regelung noch vor einem Jahr eingefordert hat, taucht nun unter. „Frau Eichhorn wird sich bei Ihnen melden“, heißt es zwei Wochen lang aus dem Büro der CDU-Abgeordneten, die so vehement gegen Genitalverstümmelung gefochten hat. Die Vorsitzende der Frauenunion, Maria Böhmer, auch Unterzeichnerin des Antrags „Genitalverstümmelung weltweit bekämpfen“, ist leider im Moment für die Presse nicht zu sprechen. Ihre Stellvertreterin Doris Pack sitzt im fernen Europaparlament: „Wir sehen die Problemlage“, beteuert sie. Augenscheinlich, so mutmaßt sie aus Straßburg, wurde der Schutz verfolgter Frauen „wichtigeren parteipolitischen Zielen untergeordnet“. Die Unionsfrauen machen sich, so scheint es, nicht einmal die Mühe, eine Ausrede zu erfinden.
Wolfgang Bosbach dagegen, ihr Abgeordnetenkollege, der für die Innenpolitik zuständig ist, ziseliert: Die Union will auch den verbesserten Status für Geduldete. Nur bitte das schwierige Wort nicht, das dem Kanzlerkandidaten nicht über die Lippen kommen will: geschlechtsspezifische Fluchtgründe. „Wenn Sie diesen Satz in seiner Allgemeinheit da stehen lassen, dann kann jede einzelne Frau aus dem Iran hier auf der Matte stehen“, menetekelt er. Dass aber doch für einen Aufenthaltstitel „Gefahr für Leib und Leben“ drohen muss, ist für Bosbach kein Einwand: „Wir erwecken den Eindruck, dass alle unterdrückten Frauen hier willkommen sind.“ Niemand könne geschlechtsspezifische Verfolgung in gesetzliche Regeln gießen, verkündet er. Dass Länder wie Kanada oder die Schweiz das schon längst getan haben, ist Herrn Bosbach bisher entgangen.
Am 7. Juni 2001 hatte die CDU ihr Zuwanderungskonzept inklusive nichtstaatlicher Verfolgung verabschiedet. Eine Zeit lang war die Partei wohl tatsächlich so verwirrt gewesen, dass die Liberalen die Oberhand hatten und die CDU ein bisschen nach links schieben konnten. Doch schon als der Komissionsbericht verabschiedet wurde, hatten sich die Konservativen konsolidiert. Im Herbst drehte sich sachte der Umfragewind. Die Union, hieß es, hätte durchaus wieder Chancen bei der Bundestagswahl im September 2002. Die CSU brachte ihren Kandidaten Stoiber in Position. Die Umfragen gaben ihm den Vorzug vor Angela Merkel. Kurz vor Weihnachten kippten die liberalen Unterstützer Merkels, Peter Müller und Christian Wulff, um und setzten auf Stoiber.
Anfang März 2002, als Schilys Gesetzentwurf fertig war, setzten Peter Müller, der CDU-Kommissionschef, und der bayerische Innenminister, Hardliner Günther Beckstein, sich zusammen, um die Unionshaltung zum Entwurf festzuzurren. Es stand auf Messers Schneide: Mit der Ablehnung des Schily-Entwurfs würde die Union Kirchen und Wirtschaft gegen sich haben, ihre klassische Klientel. Beckstein war das egal. Er setzte auf Gefühlspolitik. 76 Prozent der Deutschen glaubten laut Emnid, das Land brauche eher weniger Zuwanderung als mehr. Die Chance, Schily das „mehr“ anheften zu können und sich selbst das „weniger“, schätzten die Strategen der CSU als hoch ein.
„Man hätte da stunden- oder zur Not auch tagelang fechten müssen für unsere Position“, meint Christian Schwarz-Schilling, der Menschenrechtsbeauftragte der Unionsfraktion, ein überzeugter Anhänger des Schily-Gesetzentwurfs. Stattdessen war die Vorlage nach einer Stunde fertig: Die Union setzt auf Konfrontation. Man könnte auch sagen: Müller hatte sich kampflos ergeben.
Erleichtert springen die Innenpolitiker auf den Zug, den sie schon immer hatten nehmen wollen und mit dem die Union sich auskennt. Nun werden die alten Ressentimentschürer wieder losgelassen. Da wird entgegen den Tatsachen behauptet, Schily wolle in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Einwanderer anwerben. Dass Schily selbst betont, die Quote werde in den nächsten Jahren bei null liegen, wird überhört. Da wird das restriktive Schily-Gesetz plötzlich zum Türöffner für Armutsflüchtlinge umdefiniert. Dabei weiß jeder, der sich einmal mit dem Thema Asyl beschäftigt hat, wie hoch die Hürden sind, bis man überhaupt die Gelegenheit hat, einen Asylantrag zu stellen. Jeder, der an der Grenze erwischt wird, wird zurückgeschickt – Drittstaatenregelung. Wer es bis zum Asylantrag bringt, wird verhört und muss „glaubwürdig“ sein. Zudem wird mit dem Zuwanderungsgesetz der Aufenthalt eher schwieriger: Nun wird jeder, auch anerkannte Asylberechtigte, alle drei Jahre erneut überprüft. Nichtstaatlich Verfolgte erhalten einen leicht verbesserten Status, das ist alles.
Kommen die Frauen mit so einem Gesetz in Massen? Ein Blick nach Kanada, wo geschlechtsspezifische Verfolgung seit 1993 Asylgrund ist: Im Jahr 1999 zählte der UNHCR dort von dreißigtausend Asylsuchenden 195 Fälle von geschlechtsspezifischer Verfolgung. Sechzig Prozent dieser Fälle wurden anerkannt. Macht 117 Personen.
Warum so wenig? So zynisch es klingen mag, aber ihre unmenschliche Behandlung ist für die meisten Frauen derart selbstverständlich, dass sie niemals auf die Idee kämen, zu fliehen. Zudem haben viele Frauen Kinder zu versorgen – sie mitzunehmen ist schier unmöglich, wenn man sich etwa auf eine Schleusung einlässt. Das Geld dafür haben ebenfalls die wenigsten Frauen. Kurz und gut: Es gibt die Frauenflut nicht, die die Union beschwört. Und: Gäbe es sie, so prognostiziert etwa die Berliner Rechtsanwältin Regina Kalthegener, „dann würde die Politik aber blitzschnell per Gesetz die Türen schließen. Das haben wir doch 1992 beim ‚Asylkompromiss‘ auch schon erlebt.“
Die Union betreibt ihr altes Spiel: Sie schürt die Urangst vor dem Fremden, wohl wissend, dass sie kein reales Szenarium beschwört, sondern eine Fantasie. Wer die Angst weckt und gleichzeitig die Beruhigungspille dafür verkauft, der hat in Deutschland schon immer ein gutes Geschäft gemacht, so lautet die simple Regel. Kollateralschäden werden in Kauf genommen: 1992 waren es brennende Asylbewerberheime und Rechtsextremisten, heute sind es erst einige Frauen und sexuelle Minderheiten, denen die Union selbst einst ein besseres Leben versprochen hatte.
Dass die innenpolitischen Hardliner dabei über die Interessen der Frauen ohne Widerspruch hinweggehen können, zeigt den Stellenwert der Frauenpolitik in dieser Partei. Gegen die Linie der Union haben sich außer Schwarz-Schilling nur die beiden einzigen engagierten FrauenpolitikerInnen der CDU gestellt: Rita Süssmuth, die ihre Unbotmäßigkeit mit Isolation in der Fraktion bezahlt, und Heiner Geißler – immer schon mit Abstand die mutigste Frau der Union.
Geißler hatte Rita Süssmuth auf den Frauenministerinnensessel gehoben und der CDU 1985 ihren einzigen frauenpolitischen Parteitag verpasst. Dort proklamierte er die neue „Partnerschaft zwischen Mann und Frau“ und wollte Familien- und Erwerbsarbeit auf beide gleichermaßen verteilen. Geißler scheiterte. Auch so ein Moment versuchter Modernität, bei der die Union bis heute nicht wieder angekommen ist. Bei Frauen und Fremden macht die Union stets nur Stippvisiten in der Realität.
HEIDE OESTREICH, 33, ist Redakteurin im Inlandsressort der taz
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