: Kein normaler Fall
22 Jahre Einzelhaft wegen versuchten Mordes: Dimitri Todorov liest aus seiner Sicht der Dinge
Fast 20 Jahre muss Dimitri Todorov auf einen Sonnenaufgang unter freiem Himmel warten. Er erlebt ihn 1990 auf dem Dach der Strafanstalt Straubing, als Beteiligter einer Häftlingsrevolte. Dort sind die Lebenslänglichen inhaftiert, Todorov ist einer von ihnen. Man hat ihn wegen versuchten Mordes zu lebenslänglich und zwölf Jahren verurteilt. Insgesamt sitzt er 29 Jahre seines Lebens in Gefängnissen, davon 22 Jahre in Einzelhaft. So lange wie kein anderer wegen versuchten Mordes Verurteilter in der Geschichte der Bundesrepublik.
Nun hat er seine Sicht der Dinge dargelegt. Todorovs Debut als Autor handelt von einem ziellosen Dasein als Gangster, vom Leben hinter Gittern und von der Hoffnung auf Freiheit. Schwuler Sex and Crime inklusive. „Das ist eine wahre Geschichte.“ Sie fängt im Kino an, als er mit seiner Clique Gangsterfilme ansieht, und sie hört mit einer Kritik des Gefängnissystems auf, das Todorov als inhuman bezeichnet. Dazwischen schildert er vor allem den zermürbenden Alltag im Knast, ein ständiger Kampf gegen Überwachen und Strafen. Trotzige (Erzähl-)Wut wird dabei immer wieder unter Pathos und Sozialromantik begraben. Einem Journalisten sagte er, er sähe sich gegenüber den Gefangenen in einer „Bringschuld“, die Schilderung des zentralen Ereignisses in seinem Leben jedenfalls ist sensationalistisch eingefärbt.
Todorov hat Geschichte geschrieben. Am 4. August 1971 überfällt er zusammen mit einem Komplizen, Hans-Georg Rammelmayr, eine Bank in der Münchner Prinzregentenstraße. Das Duo bringt 17 Kunden in seine Gewalt, fordert zwei Millionen Mark und freies Geleit in einem Fluchtfahrzeug. Deutschlands erster Bankraub mit Geiselnahme endet blutig. Rammelmayr und die Geisel Monika Huber sterben, als das Fluchtauto von 36 Kugeln durchsiebt wird. Ein Sondereinsatzkommando stürmt die Bank und stellt Todorov nach einer Schießerei. „Es war“, wie er schreibt, „wie der Showdown eines Westerns.“
Die lange Haft wird zur Geduldsprobe. Mit Laufen und imaginären Reisen versucht Todorov sie zu überbrücken. Manchmal legt er 20 Kilometer pro Tag im Kreis zurück. Die Haftarbeit verweigert er, stattdessen vergräbt er sich auf der Zelle und wandert mit dem Finger über Landkarten und liest alles, was ihm in die Finger kommt. Noch im Gefängnis holt er das Abitur nach und studiert. In der Bildung findet er einen Ausweg, der ihn auch Möglichkeiten für seine Entlassung studieren lässt. Die letzten Jahre im Knast hilft er vor allem Asylsuchenden und Kleinkriminellen und berät sie in Rechtsfragen.
Heute, in Freiheit, unterrichtet er Deutsch als Fremdsprache, für Lesetouren übt er mit einem Rezitator. Ob er durch einen Seitenausgang heimlich aus dem Gefängnis möchte, fragte ihn der Direktor vor seiner Entlassung. Geht nicht, sagte Todorov, schließlich erwarten ihn am Haupttor die Journalisten. Ein gewöhnlicher Strafgefangener ist er nie gewesen. Julian Weber
Lesung: Sonntag, 21 Uhr, Fabrik; Dimitri Todorov, 22 Jahre Knast. Autobiographie eines Lebenslänglichen, Droemer Knaur 2002, 271 Seiten, EUR 7,90
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