: Jugend braucht zeitliche Freiräume
betr.: „Aus Pisa wird keiner schlau“, „Quittung für geringen Einsatz“, taz vom 25. 6. 02
Offensichtlich gibt es drei spezifisch deutsche Probleme, die zu dem lautstark bejammerten Ergebnis geführt haben. 1. Die Existenz der so genannten Gesamtschule neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium. 2. Das multikulturelle Spektrum der Probanden. 3. Die geringe Akzeptanz von Bildungsinhalten und positiven gesellschaftlichen Werten in großen Teilen der „abgehängten“ Bevölkerung.
Zu 1: Längst hat sich herausgestellt, dass eine gesamtschulische Erziehung, wie sie in einigen der „Siegerstaaten“ praktiziert wird, unserem dreigliedrigen Schulsystem überlegen ist. Gesamtschule in Deutschland wird zunehmend zur ökonomisierten Restschule bzw. zur nach oben offenen Hauptschule, die allerdings weit anonymer strukturiert ist als diese – mit entsprechend negativen Folgen für die Integrationskraft von Schule. Zu 2: Leider wird dieser zweite Aspekt der starken multikulturellen Ballungsgebiete kaum öffentlich diskutiert. Dabei liegt es auf der Hand, dass in Einwanderungsländern mit einem stellenweise relativ hohen Anteil von Ausländerkindern sämtliche Qualifikationen, die einen gehobenen Sprachgebrauch voraussetzen, unterdurchschnittlich repräsentiert sind. Dieses Gefälle existiert auch in der BRD selbst, worin ein Grund für das schlechte Abschneiden der Schüler/innen aus Bremen gegenüber denen aus Bayern liegt.
Zu 3: Dies ist der aus linker Perspektive wohl wichtigste Aspekt. Wenn sowohl Eltern als auch Kinder die Schule und ihr Bildungsangebot entweder als unsinnig diskriminieren oder als Bedrohung und Belastung ablehnen, dann fehlt die positive Voreinstellung, die für eine erfolgreiche Bildungskarriere unbedingt erforderlich ist. Damit haben andere Staaten weniger Probleme, denn sie haben nun mal nicht die bewegte Geschichte einer Schülerrevolte, wie sie Ende der Sechzigerjahre in Deutschland aufflammte. Heute muss man enttäuscht bilanzieren, dass die damalige Kritik der bundesdeutschen Linken am Bildungssystem zwar zu einigen neuen Lerninhalten und -formen geführt hat, diese jedoch von den Bildungsministerien (noch) nicht auf adäquate Weise als Reformprojekt präsentiert wurden. […] In vielen Ländern, die bei Pisa besser abgeschnitten haben, gab es diese Schülerrevolte gar nicht. Da verfährt man immer noch nach den alten Bildungsstrickmustern, setzt immer noch auf tradierte bürgerliche Bildungsinhalte bzw. Qualifikationen, die von Pisa unkritisch getestet wurden. […] Was fehlt, ist ein Test, der emanzipatorisches Wissen überprüft, emanzipatorische Qualifikationen, die in der Schülerrevolte des Deutschland von 1968 artikuliert wurden. Darin, so können wir sicher sein, würde Deutschland wohl nicht ganz so schlecht abschneiden. […] BERND H. SCHOEPS, Dortmund
Früher wusste man, was zu wissen war, und dieses Wissen war einträglich. Heute ist es unerheblich, welches Wissen man sich angeeignet hat, wenn es nur speziell genug ist und gerade benötigt wird. Der Intellektuelle ist fahrender Ritter einer vergangenen Zeit, der kaum Verständnis findet und oft Spott auf sich zieht, weil es nur noch wenige seiner Art gibt.
Und womöglich zu Recht, denn sein Wissen ist oft wenig mehr als ein versteinertes Sammelsurium von eingetrichterten Sentenzen und Methoden, die seine Bildung unter Beweis stellen sollen. Das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts als freiwillige Formung des Menschen zu einer geistigen und sittlichen Einheit ist Selbstzweck und als solcher nicht unter das Diktat der Ökonomie zu stellen, dem sich sonst alles unterordnet. Solche Bildung lebt von Beharrlichkeit, Muße, Hingabe und braucht Zeit, die kaum jemand mehr erübrigt.
Die Bildung unserer Zeit ist hingegen zweckgerichtet. Nun plötzlich fällt auf, dass sie ein wesentliches Charakteristikum ihres Zwecks nicht erfüllt, nämlich die Menschen zu fleißigen und vor allem zu funktionierenden Arbeitsbienen im Wirtschaftsstaat zu machen. Aber mit einem Volk uniformer und gleichermaßen un(aus)gebildeter Menschen lässt sich kein Staat machen, ebenso wenig mit einer Pseudoelite und der wachsenden Zahl angeblicher Hochbegabungen, die sich an selbstgesetzten und überholten Maßstäben misst.
Das grundsätzliche Problem lässt sich durch keine noch so effiziente Schulform aus dem Weg schaffen, weil es kein Problem der Schule ist, sondern der Gesellschaft, die diese verantwortet. Was die Jugend indes braucht, sind zeitliche Freiräume, die vom Hereindringen der hektischen und repressiven Konsumgesellschaft geschützt sind: spaßfreie Zonen, in welchen die Lust bei sich zu sein eine Chance hat. CLEMENS SCHARF, Mainz
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