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Ein bisschen wie auf dem Dorf

Neukölln unter Bestandsschutz: Die Rollende Road Schau der Volksbühne ist auf der Suche nach dem Volk fündig geworden. Zahnspangen blitzen im Scheinwerferlicht, Mädchen tollen im nassen Gras

Break-Dancer umarmen die Menschheit, „Mascha, ich liebe dich“

von KIRSTEN KÜPPERS

Tief hängt der Himmel über grauem Beton, ein Stück Autobahn führt ins Nichts, auf den Brachen drängt Unkraut in robusten Büscheln durch kaputten Maschendrahtzaun. Das Viertel um die Neuköllner Rungiusstraße ist keine verwöhnte Gegend. Die Wohnungen hier sollen nicht größer sein als drei Zimmer; weswegen auch keine Wohngemeinschaften eingezogen sind in den Siebzigerjahren, die Revolutionen fanden anderswo statt.

Vielleicht ist es deshalb ein bisschen wie auf dem Dorf hier. Gegen allen Schmutz der Zeit gehen die Bewohner mit blühenden Petunien an, kleine Handwerksbetriebe trotzen der Zwangsläufigkeit ökonomischer Gesetze, der Chef vom türkischen Imbiss steht schon seit 30 Jahren hinterm Tresen, draußen schlagen sich die Kinder beim Fußball blutige Knie. Wo sollte das Volk besser einzufangen sein als auf diesem Neuköllner Gebiet? Jene Menschen, die nicht bei den Medien arbeiten, die nicht Schauspieler sind oder Filmstudenten oder Künstler; diejenigen, die man früher Proletarier nannte – kurz: diejenigen, die Hitparadenlieder noch aus Leidenschaft hören und nicht mit Ironie.

Auf der Suche nach dem anderen, also dem „wahren Leben im falschen“ hat die Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz jetzt wieder drei Planwagen losgeschickt, so heißt es adornokritisch im Pressetext, raus aus der Stadtmitte und rein mit den Inhalten in die Peripherie. Die Containerwagen, die schon bei der Expo 2000 das Gegenstück zu Peter Steins Marathon-„Faust“ bildeten, stehen seit vergangenem Donnerstag auf einem Trümmergrundstück an der Rungiusstraße; mit Suppenküche, Open-Air-Kino, Bügelservice und Western-Bar, voller gesellschaftstheoretischer Hintergedanken. So wird Tradition gepflegt, übte doch schon der berühmte Volksbühnen-Intendant Benno Besson in den Siebzigerjahren mit Ostberliner Arbeitern Brecht-Stücke ein.

Abends, wenn der fahle Himmel und Hausfassaden eine schöne flache Undeutlichkeit ergeben, kommen die Neuköllner jetzt also groß raus. Die Containerbühne ist mit Lametta geschmückt, eine pakistanisch-arabisch-jugoslawische Freundinnenclique legt eine No-Angels-CD ein, tanzt und singt längst besser als das Original. Das Tribute-to-Henry-Maske-Lied dröhnt aus den Lautsprechern, Frau Krüger, die Hausmeisterin der Grundschule, hat sich das gewünscht. Die Jungs am Mikrofon heißen Aladin und Mustafa, sagen gute Pubertätssätze, wie „Wer jetzt nicht nach vorne kommt, dem wachsen Brusthaare“, machen Geräusche, die Ghetto-Rap sein sollen, wälzen sich als Break-Dancer über die Bühne, umarmen die ganze Menschheit, schreien „Mascha, ich liebe dich“ ins Publikum, lassen Zahnspangen im Scheinwerferlicht blitzen. Diesen Abend wird keiner von ihnen so schnell vergessen, an dem Aladin, Mustafa und Frau Krüger größer waren als die ganze Welt.

Für diese Momente tun die Leute von der Road Schau alles. In Imbissen drehen sie Videos, gehen in die Häuser, stellen Fragen wie „Was tun sie gerade?“, gucken in die Wohnungen rein, übernachten, frühstücken, machen Fotos, sammeln Lieblingsmusiken; die Autorin Annett Gröschner schreibt jeden Tag eine Geschichte ihrer Erkundungsspaziergänge auf; die Handpuppentruppe Puppetmastaz treibt sich nach Einbruch der Dunkelheit mit einem Ghettoblaster auf Spielplätzen herum, stöbert rappende Jugendliche auf, lädt alle immer wieder auf das Road-Schau-Gelände ein, – die Neuköllner können sich fast vorkommen wie seltene Zootiere.

Abends vor den Containern sind alle zufrieden, feiern sich ein bisschen selbst. Kleine Mädchen tollen im nassen Gras, sonnenstudiogebräunte Erziehungsberechtigte trinken Bier, rauchen und wippen immer wieder zu „No Angels“, die Volksbühnen-Dramaturgin Hanna Hurtzig lobt die „dufte Stimmung“, der Regisseur René Pollesch erklärt über einem Plastikteller voll Kartoffelsuppe, es gehe bei dem Projekt um „homogene Orte“ und „Verteidigungsreflexe“ und er finde die Leute hier „sehr interessant“.

So wächst die Materialsammlung jeden Tag. Nicht nur als temporäre Ausstellungs-, Diskussions- und Performanceschnipsel in den Road-Schau-Containern, sondern auch für einen „Neukölln-Abend“, den es im Oktober an der Volksbühne geben soll.

Wenn die Rollende Road Schau der Versuch eines Theaters sein soll, die Auseinandersetzung mit Welt nicht rein ästhetisch zu betreiben, sondern künstlerische Ansprüche auf die Wirklichkeit treffen zu lassen, dann ist das ein ehrenwertes Experiment; das Scheitern droht allenfalls von den Rändern her. Vor seinem Übernachtungstermin bei einer Neuköllner Familie gibt ein Road-Schau-Aktivist zu: „Ich habe schreckliche Angst.“ Trotzdem bleibt das Ganze ein mutiges Unterfangen, ein Projekt, das es gut meint. Auf der Leinwand des Open-Air-Kinos läuft jetzt ein kroatischer Film. Ein wirklicher Blockbuster wäre bei Aladin, Mustafa und den anderen besser angekommen, die kleinen Brüder bewerfen die Mädchen mit Kaugummi.

Rungiusstraße 9, in Neukölln-Britz, 4., 5., 6. Juli, 20 Uhr

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