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Wenn es Herbst wird im Sommer

Auf dem Weg vom Balkan nach Nordeuropa hat die Miniermotte auch Berlin erreicht. 90 Prozent aller Kastanien sind befallen, eine Lösung ist nicht in Sicht. Droht den Kastanien damit ein ähnliches Schicksal wie der ausgestorbenen Ulme? Eine Recherchevon UWE RADA

Wer das Glück hat, in unmittelbarer Nähe einer weißen Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) zu leben, hat in diesem Sommer besonders viel Pech. Statt sich an der Blätterpracht seines Baumes zu berauschen, heißt es schon im Juni Laub kehren. Schuld daran ist die Rosskastanienminiermotte (Cameraria ohridella), die in Berlin bereits 90 Prozent der insgesamt 21.780 Kastanien befallen hat.

In der Kastanienallee in Prenzlauer Berg, in den Biergärten der Stadt und in ihren Hinterhöfen – überall ist das Elend zu beobachten. Kaum war die Kastanienblüte zu Ende, begannen sich im Mai die ersten Blätter bräunlich zu färben. Mittlerweile sind viele Blätter ausgetrocknet, an den Seiten eingerollt und fallen ab, als würde es Herbst mitten im Sommer. Die Miniermotten haben ganze Arbeit geleistet.

Und die geht so: Pünktlich mit der Kastanienblüte beginnt auch der Mottenflug der Cameraria ohridella samt Eiablage auf der Blattoberfläche der Kastanien. Sind die Eilarven geschlüpft, beginnen sie unter der Blatthaut zwischen den Blattadern zu „minieren“. Je größer die Larven werden, desto mehr fressen sie sich durchs Blatt, bis sie sich schließlich im Blattinnern verpuppen.

Derzeit ist in Berlin schon die zweite Mottengeneration zugange. „Warmes Wetter begünstigt die Entwicklung, sodass der Befall in diesem Jahr besonders stark ist“, sagt Gysbert Krüger vom Berliner Pflanzenschutzamt. Und ein Ende ist noch nicht erreicht. Bis zu drei Mottengenerationen können bei günstigem Wetter im Sommer ihr Schadenswerk verrichten. Die letzte Generation schließlich überwintert im Laub auf dem Boden – bis im nächsten Frühjahr die Bäume wieder grünen und alles von vorne beginnt.

Vor vier Jahren wurden die ersten Schäden an den Berliner Kastanien entdeckt. Doch die waren nicht allzu groß, ein paar braune Flecken da, ein paar ockerfarbene dort, sodass mancher eher zum Gartenschlauch griff als zum Telefonhörer, um beim Pflanzenschutzamt anzurufen.

Wer allerdings zu dieser Zeit in Bayern Urlaub machte, konnte sehen, dass es bei ein paar braunen Blättern nicht bleiben würde. „Mittlerweile kann man für unseren Raum bereits sagen, dass es keine nicht befallenen Bäume mehr gibt“, sagt Reinhard Strobel, der Leiter des Forstamts im niederbayerischen Landau.

Biergärten betroffen

Ähnlich sieht es in München aus, der Hauptstadt nicht nur der Herzen, sondern auch der Biergärten mit insgesamt 10.000 Kastanien. Und in der österreichischen Hauptstadt Wien hat man bereits seit vielen Jahren gelernt, mit der Miniermotte zu leben – und mit Kastanien, die lauben, bevor der Heurige ausgeschenkt wird.

Die unterschiedlichen Befalldaten sind auch ein Hinweis auf den Weg, den die Miniermotte durch Europa genommen hat. 1984 in der Nähe des mazedonischen Ohridsees entdeckt, hat sie sich seitdem kontinuierlich nach Nordwesten bewegt, und zwar mit einer Geschwindigkeit von 80 bis 100 Kilometern pro Jahr. Und ein Ende ist nicht in Sicht, da die Miniermotte im Gegensatz zu anderen Insekten kaum natürliche Feinde hat.

Vom Tempo der Ausbreitung ist auch Detlef Petzuch vom Amt für Landwirtschaft und Ernährung in Würzburg überrascht: „Noch im August 1997 haben wir gesagt, bei uns ist nichts, und im September haben wir feststellen müssen, dass wir den ersten Befall haben.“ Ein Monitoring der bayerischen Landesbehörden in Zusammenarbeit mit der TU München hat zudem ergeben, dass sich die Miniermotte auf dem Weg vom Balkan in die Europäische Union im Wesentlichen entlang der Autobahnen und Bahnstrecken ausbreitet. Hauptwanderungsrichtung ist Nordwest: „Wir wissen, dass im Nordosten, in den neuen Bundesländern, dieses Tier noch nicht zu beobachten ist. Das Rhein-Main-Gebiet, Hessen und Bereiche des Mittelrheins sind dagegen im Prinzip ganz befallen“, so Detlef Petzuch. Inzwischen melden auch dänische Behörden den ersten Befall.

Grazer Baumimpfung

Und die österreichischen Behörden melden ihre ersten Pilotprojekte zur Bekämpfung der Epidemie. In Graz begann der Kampf gegen die Miniermotte am 29. April mit einer Sprühaktion. Bei dieser in der Lokalpresse etwas harmlos als „Pflanzenimpfung“ bezeichneten Maßnahme handelte es sich um den Einsatz des Pflanzenschutzmittels Dimilin. Das Mittel, das in Graz nahezu flächendeckend in Parks und Straßenzügen versprüht wurde, soll die Entwicklung der Larven im Innern des Kastanienblatts verhindern. Dimilin, hieß es von den Grazer Behörden, sei für den Menschen völlig ungefährlich. „Um eventuellen Geruchsbelästigungen vorzubeugen, wird empfohlen, die Fenster in den Einsatzgebieten geschlossen zu halten.“

In Deutschland dagegen darf Dimilin nicht versprüht werden. Und eine Injektion der so genannten Häutungshemmer in den Stamm oder das Wurzelwerk ist bislang noch nicht ausreichend erprobt und darüber hinaus sehr kostspielig.

Auch die Entwicklung von „Lockstofffallen“, die die männlichen Motten von den Bäumen fernhalten sollen, hat bislang nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht, bedauert Horst Bathon vom Institut für biologischen Pflanzenschutz der Biologischen Bundesanstalt in Darmstadt. „Zwar drücken solche Lockstoffe die Population“, sagt Bathon. Der Befall könne aber nicht dauerhaft reduziert werden, weil es immer noch zu viel Männchen gebe, die nicht in die Falle gingen. Außerdem sei der Aufwand beträchtlich, die Fallen mit Leitern und Hebebühnen in die Baumkronen zu bringen.

Auch in Berlin ist derzeit nicht an solche aufwändigen Maßnahmen gedacht. In einer Mitteilung von Umweltsenator Peter Strieder (SPD) wird lediglich geraten, das Laub regelmäßig zu entfernen, damit der „Anfangsbefall im kommenden Jahr etwas vermindert werden kann“. Dabei ist man sich der Gefahr, die den Kastanien droht, durchaus bewusst: „Befallene Bäume können den Befall einige Jahre tolerieren“, so die Umweltverwaltung. Mittelfristig sei jedoch „mit Vitalitätseinbußen und einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber anderen Schädlingen zu rechnen“.

Mit dem Schädling leben

Und während Horst Bathon vom Darmstädter Institut für biologischen Pflanzenschutz beinahe schon resignierend meint: „Wir werden wohl mit ihnen leben müssen“, deutet Detlef Petzuch vom Würzburger Landwirtschaftsamt an, dass die Abwehrkraft der betroffenen Bäume auch begrenzt ist: „Es kann durchaus sein, dass einzelne Bäume abgängig sind. Ich gehe eher davon aus, dass die Schwächung des Baumes Folgeschäden etwa durch Käfer herbeiführt.“

Droht der weißen Rosskastanie damit ein ähnliches Schicksal wie der Ulme, die durch den Splintkäfer beinahe vollständig aus unseren Städten und Landschaften verschwunden ist? „Zurzeit sieht es noch nicht so aus“, meint Detlef Petzuch. Aber genau weiß auch er es nicht.

Bleibt als einzige Gewissheit, dass auch in Berlin schon im Sommer das Laub fällt und dass man diesen sommerlichen Herbst nicht einmal genießen darf. Schließlich darf das Laub auf keinen Fall auf dem Boden liegen bleiben. Am gründlichsten und sichersten, rät Umweltsenator Peter Strieder übrigens, sei eine „Kompostierung in Großkompostierungsanlagen“.

Weiteres: www.cameraria.de

FOTOS: Kastanienblätter: D. HARMS/WILDLIFE; gefräßige Mottenlarve: MATHYS, DÜGGELIN/ZENTRUM FÜR MIKROSKOPIE DER UNI BASEL http://www.unibas.ch/zmb

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