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Zwischen Wüste und totalem Leben

Die Verschwenkung der Stadtbahngleise ist geglückt und alle sind verschlafen, aber happy. Pünktlich um 4.05 Uhr hält nach zwölftägiger Streckensperrung der erste S-Bahn-Zug unter dem Glasdach des neuen Lehrter Bahnhofs

Otto 2 fährt ein. Eine Gruppe Bauarbeiter steht am Bahnsteig. Still, feierlich. Orangene Westen leuchten in der Dunkelheit. Es ist 4.05 Uhr am gestrigen Morgen. Otto 2 ist die erste S-Bahn, die am neuen Lehrter Bahnhof hält. Aus einem Wagen kommen drei Freunde, die Ersten, die diesen Bahnsteig betreten. Sie lachen noch, weil auf dem Display in der S-Bahn immer noch Lehrter Stadtbahnhof stand. „Das stimmt jetzt nicht mehr.“

12 Tage war die Strecke Friedrichstraße–Zoologischer Garten wegen Bauarbeiten für S-Bahnenverkehr gesperrt. Christian Morgenroth hat in dieser Zeit zusammen mit seinen Kollegen die S-Bahngleise verlegt. Weg vom alten Lehrter Stadtbahnhof, hin zu dem neuen 700 Millionen Euro schweren „Designerstück“. Der Baubetriebsmanager ist erleichtert. „Es war ein Gewaltakt,“ sagt er. Die Männer in den orange Westen haben die ganze Nacht durchgearbeitet.

Otto 2 fährt weiter nach Potsdam. Die drei Freunde Thilo Kalk, Sascha Karau und Martin Grether wechseln hinüber zum nächsten Bahnsteig. Auch sie sind die ganze Nacht aufgeblieben. Sie wollten rechtzeitig zur Abfahrt von Otto 2 an der Friedrichstraße sein. Kameragewitter brandet auf. Die nächste Bahn feiert ihren Einzug. Aus einem der letzten Waggons tönt Partymusik. „Lehrter Bahnhof“, grölt ein Teenager und schwenkt den Ghettoblaster. Sascha, Martin und Thilo haben Besseres zu tun. Im spärlichen Bahnhofslicht schreiben sie die Wagennummern in ein Notizbuch. „Damit wir sie wiedererkennen“, erklärt Sascha. Er weiß fast alles über S-Bahnen. „Das O steht für die Zuggruppe. Fachleute sagen Otto zur S 7“, erklärt der 18-Jährige und blickt auf die Uhr. „Jetzt kommt Theodor.“ Er meint die S 75.

„Jeder Mensch hat seinen Affen, dem er Zucker geben muss“, ein Ingenieur versucht seine Begeisterung in Worte zu fassen. Gerade hat er die Urkunde für Erstankommer abgeholt. Der 65-Jährige erzählt von der Zeit, als er noch mit der Piko-Eisenbahn gespielt hat. 1949 war das. Ein Märklin-Verschnitt aus Chemnitz. Dann blickt er hinüber zum provisorischen Ausgang und zum alten Lehrter Stadtbahnhof, wo man schon die Spuren der Abrissbirne erkennen kann.

Über der Glaskuppel wird es langsam hell. Der Reichstag gegenüber wird in immer lichteres Blau getaucht. S-Bahnen fahren ein und aus. Sabine Enders, eine Frau Mitte 40, genießt die Atmosphäre. Die Morgendämmerung, das erste Vogelzwitschern und die Menschen auf dem Bahnsteig, „Zwischen Wüste und totalem Leben“, wirft sie dahin.

Holger Hoppe, Pressesprecher der S-Bahn, ist froh, dass nun zumindest diese Streckensperrung aufgehoben ist. „Menschen sind ungehalten, wenn ihnen Gewohntes genommen wird“, berichtet er. Er ist stolz darauf, dass die S-Bahn als erste Einzug im bald größten Eisenbahnkreuz Mitteleuropas gehalten hat. So wie auch Klaus Wowereit. Der Regierende Bürgermeister besichtigt am Vormittag zusammen mit Bahnchef Hartmut Mehdorn den Lehrter Bahnhof. Er schwärmt davon, wie wunderbar es sei, in so kurzer Zeit ein solches Meisterwerk wachsen zu sehen. SUSANNE VANGEROW

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