Unter Travellern

Thailand ist das Kreta von heute: Motorboote mit laut aufgedrehter Bob-Marley-Musik, Lichterketten an Karaoke-Bars und Fotos von Hautkrankheiten. Über die Suche nach dem schönen Rausch, das Recycling vergangener Jugendkulturen und das Elend des Individualtourismus: Impressionen einer Reise

von KIRSTEN KÜPPERS

Samstag: Die Backpacker um acht Uhr morgens auf der Kao-San Road ähneln dem Publikum einer Goa-Party. In einem überreizten Zustand hängen sie in Straßencafés, die billig sind, weil die schönen Namen nur falsche Versprechen sind: „Khaosan Palace“, „Lucky Bar“ oder „Gulliver’s“. Sie reden kaum, bewegen jeweils nur leicht den Fuß zum Takt irgendeiner stark rhythmisierten Musik. Es ist unklar, ob sie um diese Uhrzeit immer noch wach sind oder schon wieder. Im Unterschied zu einer Technoparty sieht das Publikum hier indes nicht besonders glücklich aus. Die thailändischen Händler versuchen ihnen Diskokugeln und Feuerzeuge zu verkaufen, eine blinde Frau singt in ein Mikrofon. Auf der Straße herrscht ein Geschiebe wie auf der Love Parade.

Sonntag: In den Guesthouses, wo die Traveller schlafen und essen, werden jeden Abend auf einer Videoleinwand amerikanische Filme gezeigt: „Gladiator“, „Pearl Harbor“ etc. Bei den Kampfszenen klatschen die männlichen Zuschauer. Die meisten von ihnen dürften Kriegsdienstverweiger sein, sie tragen die seit den späten 60er-Jahren geltenden typischen Erkennungszeichen: blondierte, lange Haare, bunt geknüpfte Freundschaftsbändchen um Arme und Füße, armeegrüne Hosen mit seitlich aufgenähten Taschen. Wenn eine Bombe auf der Leinwand hochgeht, bestellen sie ein neues Bier. Die meisten thailändischen Kellnerinnen sehen nicht so aus, als würden sie diesen abendlichen Stunden ihres Berufes irgendetwas Positives abgewinnen.

Montag: Auf dem Platz vor einem kleinen Tempel am Fluss haben zwei thailändische Jugendliche einen Ghettoblaster aufgestellt. Zu Technomusik tanzen sie eine schnelle, nach allen Kriterien zeitgenössischer Musikvideoproduktion wohl durchdachte Choreografie. Die perfekte Synchronität ihrer Bewegungen lässt die beiden wie batteriebetriebene Puppen aussehen. Wieder und wieder üben sie dieselben Schrittfolgen, probieren komplizierte Drehungen, korrigieren sich gegenseitig, spulen die Kassette zurück. All das mit großer Ernsthaftigkeit. Man wünscht, dass die Karriere gelingt, um Himmels willen.

Dienstag: Im Bus nach Hua Hin werden Gewaltvideos gezeigt. Draußen vor dem Fenster streckt sich Bangkok ewig. Man schläft ein, wird wieder wach und schaukelt immer noch durch die Outskirts. Erst viel später fährt der Bus an sumpfigen Reisfeldern vorbei, bunten Tempelanlagen, 70er-Jahre-Industriebauten. Über die Lautsprecheranlage laufen seifige thailändische Schlager. Auf dem Bildschirm schlägt ein Mann eine Frau zusammen.

Hua Hin. In den Bars warten thailändische Mädchen gelangweilt aufs Animieren. Es ist Mittag und das Geschäft läuft um diese Uhrzeit eher schleppend. Man sieht nur vereinzelt Europäer bei ihnen sitzen, wohlgenährte Langeweile. Im örtlichen Steakhaus tragen die thailändischen Angestellten Cowboyhüte, um dem Westernimage ihres Arbeitsplatzes gerecht zu werden. Eine deutsche Urlauberin fragt uns später, wo man hier Brot, Wurst und Butter kaufen kann. Sie schien durcheinander.

Am Strand treffe ich einen netten Hund. Die thailändischen Hunde sind sehr freundlich und ramponiert. Selbstbewusst tragen sie offene Wunden und Krankheiten zur Schau. Die meiste Zeit sind sie mit Schlafen beschäftigt.

Mittwoch: Der Protagonist von Michel Houellebecqs neuem Buch, der sich auf einer Pauschalreise durch Thailand befindet, preist die Vorzüge von Massagesalons und Gogo-Bars, das erotische Talent asiatischer Frauen ganz allgemein. Am Strand von Hua Hin sieht man besonders viele männliche Europäer mit Thailänderinnen spazieren gehen, im Meer liegen oder im Strandkorb sitzen. Die beiden könnten sich auch ganz harmlos auf einer Vernissage kennen gelernt haben, meint mein Reisebegleiter.

Donnerstag: Vor dem betonierten Eingang zum Hochhaus des Hilton-Hotels stehen zum Schutz der Hotelgäste thailändische Wächter in Fantasieuniformen. Da, wo die Stadt ohne Touristen ist, wohnen die Einheimischen in einfachen zweistöckigen Holzhäusern. Zur Straße hin befindet sich meist ein garagenähnlicher, neonbeleuchteter Raum, der für allerlei unternehmerische Bemühungen dient. Außerdem werden diese Beauty-Shops, Nähereien, Motorradwerkstätten und Frisiersalons von Großfamilien als Schlafzimmer, Versammlungsort und Fernsehraum benutzt. Auf dem Bürgersteig davor stapeln sich die Badeschlappen. Hunde schlafen auf der Mülltonne, Mücken sirren. Es riecht nach gegorener Ananas. Eine betrunkene Kakerlake torkelt über die Straße.

Samstag: Am Strand lassen sich die männlichen Touristen von Thailänderinnen pediküren oder massieren. Manche essen auch einfach gemeinsam mit den Frauen Mangoschnitzel, die hier überall an kleinen Ständen verkauft werden.

Wir essen bei Hans, einem deutschen Expatriate. Am Nebentisch unterhalten sich zwei deutsche Männer angeregt mit einer Thailänderin. Die Frau steht schließlich mit dem Brillenträger auf. Der Mann mit der Glatze bleibt enttäuscht sitzen. Doch die Thailänderin hat ihn nicht vergessen. Bevor sie das Lokal verlässt, sagt sie ihren Freundinnen an der Bar Bescheid. Drei junge Frauen kommen an den Tisch und bestreiten fröhlich schwatzend den weiteren Abend. Der Mann mit der Glatze scheint hingerissen von so viel Entgegenkommen.

Sonntag: Die Thailänder sind große Musikliebhaber. Überall laufen klebrige Schlager, schön kandierter Kitsch. Selbst in entlegenen Industriegebieten finden sich Karaoke-Bars, auch wenn dort oftmals gar kein Betrieb herrscht. Es ist, als würden ihre Besitzer einfach freundlich Vorsorge treffen wollen, Bildschirme aufstellen, Mikrofone verkabeln und so weiter, damit die Menschen nicht ohne technische Gerätschaft dastehen, wenn sie plötzlich die Lust zu singen überfällt. Heute Abend hat man ein Mädchen allein ganz vorne an einem Tisch in einem leeren Gastraum sitzen sehen. Das Mädchen hat mit schiefer Stimme ein trauriges Lied gesungen, während der Kellner schon die Lichterketten ausschaltete.

Mittwoch: Auf der Fähre zur Insel Koh Lanta reisen nur Traveller. Eine Art widerstandsfähige Verschiebemasse, eingekleidet mit Waren, die es billig an den Ständen entlang der Touristenmeilen gibt. Vornehmlich sind das Spaghettiträgerhemdchen und T-Shirts bedruckt mit asiatischen Schriftzeichen, dazu weite Hosen aus einem ethnisch gemusterten Stoff, von dem jedoch nicht klar ist, welcher Ethnie er repräsentieren soll. Thailänder hat man in diesen Stoffen nie gesehen. Die Händler hätten diese Kleider verbrennen sollen, jetzt ist es zu spät. Mit ihren Tätowierungen und bunten Mützchen erinnern die Traveller an Protagonisten aus irgendeinem „Big Brother“-Haus dieser Welt. Sie kuscheln sich wie junge Hunde an Deck des Schiffes aneinander, benutzen sich gegenseitig als Kopfkissen, die ersten Biere werden um 10.15 Uhr geöffnet.

Die Einheimischen, die zwischen den Rucksäcken umherspringen und Bungalows für den Aufenthalt auf der Insel zu vermieten suchen, wissen um das Bedürfnis ihrer Kunden nach Individualtourismus: „A very different place“, rufen sie, „very different!“ Sie werden trotzdem wie lästige Fliegen verscheucht, die Gespräche der Traveller drehen sich um Ausschlafen und wie viel das Flugticket gekostet hat.

Man sitzt inmitten dieser hemmungslos faulen Gesellschaft auf diesem Boot, hinter einem liest ein junger Engländer Nelson Mandelas Buch „A long walk to freedom“, sein Freund trägt einen albernen Indiana-Jones-Hut aus Leder, man selbst schwitzt ein bisschen in seinem viel zu warmen schwarzen Hemd, das man aus einem albernen Drang zur Differenz angezogen hat, und spürt eine angenehme Leere. Ein Gefühl der Zugehörigkeit will sich nicht einstellen. Ständig fahren Boote mit laut aufgedrehter Bob-Marley-Musik vorbei.

Donnerstag, Koh Lanta: Ein kleines Äffchen hat mich in den Fuß gebissen. Danach mit Taschenlampen in eine dunkle Höhle geklettert. Zum Schluss mussten wir auf den Bäuchen rauskriechen, waren schmutzig und glücklich. Einer dieser Momente, in denen sich die Gegenwart aufzulösen scheint. Einen Kiosk gesehen, in dem rotes Benzin in Flaschen verkauft wurde.

Freitag: Die ansässige Partyszene wirbt auf großformatigen Werbetafeln am Straßenrand für eine Reggae Night mit DJ Roots und BBQ.: „Let’s all come together and create music and love, but there’s to much poverty too.“ Weiß der Teufel, wo sie diesen letzten Halbsatz herhaben.

Sonntag: Im Zug schreibt ein junger deutscher Traveller in sein Tagebuch: „Ich habe die ganze Nacht gekotzt, gekotzt und noch mal gekotzt, dazu noch üblen Durchfall.“ Ansonsten ist Zugfahren in Thailand eine schöne Beschäftigung. Auf den Nachbargleisen lassen Kinder bunte Papierdrachen steigen, Väter helfen, stolpern über die Schienen. Wenn am Bahnhof von Bangkok die Nationalhymne aus den Lautsprechern schallt, stellen sich alle Menschen aufrecht hin, bleiben starr und feierlich stehen, bis die Hymne zu Ende ist. Es sieht aus, als hätte jemand bei einem Video die Stoptaste gedrückt, nur dass das Bild nicht flimmert. Die Fahrkartenschalter werden für wenige Minuten geschlossen. Eine Vitrine zeigt Fotos von Hautkrankheiten.

Mittwoch, Bangkok: Wenn man mit einem Tuktuk fährt, einem dieser bunt lackierten motorisierten Dreiradtaxis, hängt man beim Fahren tief in der Straße und kann die Umwelt nur etwa auf Bauchnabelhöhe wahrnehmen. Obwohl man auf diese Weise die Gesichter der Menschen nicht sieht, erkennt man sofort, wann man das Traveller-Ghetto erreicht hat. Die Bäuche draußen werden dicker.

Wir kommen in einem schlimm billigen Loch ohne Fenster unter. Das Zimmer ist so klein, dass man die Koffer auf das Bett stellen muss, weil sonst kein Platz ist. Im Dunkeln auf Geräusche hören. Im Zimmer nebenan wohnt der betrunkene Engländer, den wir schon vor knapp drei Wochen durch die Straßen haben torkeln sehen. Er hat wieder einen Vollrausch.

Das Houllebecq-Buch langweilt. Schon vor 150 Seiten war klar, dass der Held Sextourismus in Ferienclublandschaften integrieren will. Beim Lesen immer mehr das quälende Gefühl, der Selbstdemontage eines Autors beiwohnen zu müssen.

Donnerstag: Wieder jemanden im „One life, live it“-T-Shirt gesehen. In der Kao-San Road läuft hundertmal am Tag derselbe alte Hit von Oasis. Man wundert sich über die Unverdrossenheit der Traveller. Sie rennen irgendeinem schönen Rausch hinterher, einem verrückten Zustand aus bunten Abenteuern, Drogen und Festen, von dem andere Menschen behaupten, ihn vor langer Zeit erlebt zu haben. Und tatsächlich scheinen sie zu glauben, diese Erfahrung einholen zu können, und sei es nur durch das konsequente Recycling der Versatzstücke vergangener Jugendkulturen, durch das Hören von Musik beispielsweise, in der längst kein wunderbarer Geist mehr wohnt. Nachdem ich mich ein bisschen über diesen Unsinn aufgeregt habe, gehen wir ins Einkaufszentrum. Dort gibt es einen Laden für chinesische Medizin, der „woman pills“ verkauft. Es ist unklar, was passiert, wenn man sie nimmt.