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Mein Bruder ist ein Alien

Alternativen zur Kleinfamilie: Mit „Lilo & Stitch“ entfernt sich die Firma Disney von ihren ideologischen Vorgaben

Was darf die Genforschung, was darf sie nicht? Worüber hierzulande noch heftig gestritten wird, ist auf dem Planeten Tura längst geregelt. Dort gibt es strenge Gesetze gegen das Klonen: Eine neue Spezies zu erschaffen, ist kein Kavaliersdelikt, erst recht wenn diese Spezies klein, blau, pelzig und darauf programmiert ist, alles zu zerstören, womit sie in Kontakt kommt. Also wird die niedliche Kampfmaschine mit dem Namen Experiment 626 in die Verbannung geschickt: in Zone 51, unter Erdlingen besser bekannt als Hawaii.

Was darf Disney, was nicht? In „Lilo & Stitch“ erstaunlich viel. Wie gesprengt wirken die ideologischen Fesseln, von denen die Filme aus dem Entertainment-Konzern noch lange nach dem Ableben des Firmengründers bestimmt wurden. Die Geschichte von Stitch, dem Ungetüm aus dem Weltall, dessen Programmierung durch die Zuneigung des Mädchens Lilo durcheinander gerät, hantiert zwar stets mit der Glücksverheißung durch das althergebrachte Modell Familie, steuert aber zwangsläufig darauf zu, die Patchwork-Familie mit Alien-Erweiterung als Alternative zu etablieren.

Kein Disney-Film kommt ohne Waisenkind aus. Hier gibt es gleich drei: Experiment 626 (alias Stitch), Lilo und ihre älteren Schwester Nani, die die familiären Erfordernisse mehr schlecht als recht erfüllt. Die Existenz alternativer Familienentwürfe wird erstmals nicht nur anerkannt, sondern auch positiv besetzt. Und damit nicht genug: Das Vorleben von Stitch als Experiment 626 lässt sich als Beitrag zur Gen-Debatte lesen, der Kampf von Nani um ihren McJob im Touristenrestaurant als Globalisierungskritik. Wenn Stitch wie ein Apologet anarchischer Zerstörungswut durchs Kinderzimmer fräst und dabei alle Gremlins und Critters in den Schatten stellt, wird klar: Ein solch gewalttätiges Kuscheltier hat sich Disney noch nie geleistet. Dass Stitch schließlich domestiziert wird und Englisch lernt, um die üblichen staatstragenden Statements von der heilenden Kraft von Liebe und Familie vorzutragen, das muss allerdings sein: Schließlich will die Zielgruppe noch einschlafen.

Doch im Gegensatz zu vorangegangenen Disney-Produkten überwältigt die Sentimentalität nicht gleich den ganzen Film. Zu den Eltern des angepeilten Publikums sucht man den Kontakt mit einem erwachsenen Humor: So stehen die Menschen unter Naturschutz, weil sie die wichtigste Nahrungsquelle für die im intergalaktischen Zusammenhang vom Aussterben bedrohten Moskitos sind. Ebenso wenig wird ein Vorschulkind verstehen, wenn Stitch aus Spielzeug ein riesiges Städtemodell baut, um Godzilla spielen zu können. Ganz zu schweigen von Insiderscherzen wie „Kiki's Coffee House“, benannt nach „Kiki's Delivery Service“, einem der bekanntesten Filme der Animé-Legende Hayao Miyazaki, vom dem sich die beiden Regisseure Chris Sanders und Dean DeBlois entscheidend beeinflusst sehen.

Während also der Disney-Konzern mit „Lilo & Stitch“ sich inhaltlich so weit von den steifen Vorgaben seines Übervaters entfernt wie nie, durchzieht den Film ästhetisch eine sympathische Nostalgie, die auf den Charme von Wasserfarben setzt: Von den Elvis-Hits, die Lilo auf einen altertümlichen Plattenspieler auflegt, über die Animation, die die heute möglichen Computerleistungen nicht voll ausschöpft, bis zur ausführlichen Zeichnung einer überschaubaren Anzahl von Figuren hat man es mit einem schönen, altmodischen Zeichentrickfilm zu tun.

THOMAS WINKLER

„Lilo & Stitch“. Regie: Chris Sanders, Dean DeBlois, USA 2002, 85 Minuten

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