piwik no script img

Das große gemeinsame Vergessen

In Deutschland leben so viel HIV-Infizierte und Aidskranke wie noch nie. Doch das Thema ist weitgehend aus der öffentlichen Debatte verschwunden

von VOLKER MERTENS

Es ist paradox: Die Immunschwächekrankheit Aids ist im öffentlichen Bewusstsein immer weniger präsent, obwohl die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit HIV und Aids mit etwa 38.000 Betroffenen noch nie so hoch war wie heute. Das Ausblenden von Aids hat viele Gründe.

Als Mitte der 90er-Jahre erste Therapiemöglichkeiten publik wurden, gaben einzelne Medien Entwarnung. Aids schien seinen Schrecken verloren zu haben. Das gipfelte in Berichten über die so genannte Postexpositionsprophylaxe, „die Tablette danach“, die unmittelbar nach der Risikonacht geschluckt werden soll, um das Virus auszulöschen.

Auch die Betroffenen agieren anders als Ende der 80er-Jahre. In einer Zeit, in der allen Infizierten ein schneller Tod drohte, machten Positivengruppen wie „Act Up“ mit provokanten „Die-ins“ auf das Problem aufmerksam. Die Medien berichteten über ausgefallene Aktionen, und viele prominente Infizierte starben einen öffentlichen Tod.

Heute erscheint das Krankheitsrisiko individuell kalkulierbar. Wer die besser informierten Ärzte kennt, überlebt die HIV-Krise vielleicht auf Dauer. Wer sich über neue Medikamenten-Kombinationen auf dem Laufenden hält oder die Hürde der gekürzten Budgets gekonnt überwindet, hat bessere Chancen. Diese Strategien verfolgt jeder für sich. Sie brauchen keine Öffentlichkeit. Die Hoffnung auf ein möglichst langes Weiterleben führt zu individueller Anpassung. Die Betroffenen lassen sich mehr und mehr auf die Regeln des Medizinbetriebes ein. Das individuelle Arrangement vieler Betroffener mit ihrer Krankheit hat kaum Nachrichtenwert.

Dass das Thema von den Medien fallen gelassen wurde, liegt aber auch an einem Abnutzungseffekt. Neue Themen und Katastrophen drängen Aids in den Hintergrund. Zudem hat sich der Blickwinkel der Medien seit Jahren nicht geändert. Irgendwann nutzen sich Personality-Stories oder Prominentenberichte ab, irgendwann will man nicht mehr lesen, wann sich wer wo und wie infiziert hat.

Dennoch: Aids ist Realität! Auch in Deutschland steigt die Zahl der Betroffenen jährlich um rund 2.000 Personen. Anstatt Aids zu verdrängen, wäre es notwendig, sich dem Thema neu, aus ungewöhnlichen Perspektiven zu widmen.

Ansätze hierfür gibt es genug – denn die Krankheit hat unsere Gesellschaft verändert: War Aids in den 80er-Jahren eine menschliche Tragödie und ein medizinisches Desaster, ist es heute oft ein Armutsproblem. Die überwiegende Zahl der Betroffenen erkrankt vor dem 40. Lebensjahr. Sobald keine Erwerbstätigkeit mehr möglich ist, müssen viele von Sozialhilfe leben. Wer jung erkrankt, hat meist keine Rentenansprüche oder sonstige Versicherungsleistungen zu erwarten. Ein Sozialhilfeniveau reicht – trotz Mehrbedarfszuschlägen – für kranke Menschen nicht aus. Aus diesem Grund muss mehr als jede dritte in Deutschland an Aids erkrankte Person jährlich mindestens einmal die Hilfe der Aids-Stiftung in Anspruch nehmen. Eine vergleichbare Situation materieller Not dürfte sich bei keiner anderen tödlich verlaufenden Krankheit beobachten lassen.

Die Ablehnung von an Aids erkrankten Menschen ist immer noch an der Tagesordnung. Im vergangenen Monat beispielsweise bat ein Antragsteller die Deutsche Aids-Stiftung um finanzielle Unterstützung beim Austausch seines Türschlosses. Der Mann war in seinem Haus mehrfach bedrängt worden. Schmierereien an Wohnungstür und Klingel mit den Worten „Stirb langsam!“ folgten. Nach einem vierwöchigen Krankenhausaufenthalt war das Türschloss mit Sekundenkleber unbrauchbar gemacht worden.

Das öffentliche Vergessen hat auch die Politik erfasst. International wäre ein stärkeres finanzielles Engagement Deutschlands notwendig, um die Forschung nach einem Impfstoff voranzutreiben. Auf Landes- und kommunaler Ebene müssen viele Aids-Beratungsstellen erleben, dass Haushaltskonsolidierung und Sparzwang ihre Zuschüsse bedrohen und die Arbeitsfähigkeit einschränken.

Die Politik ist zu Recht stolz darauf, dass Aids dank einer umfassenden Präventionsarbeit in Deutschland auf relativ niedrigem Niveau gehalten werden konnte. Vergessen wird dabei, dass niedrige Infektionszahlen nur bleiben, wenn bei jeder neuen Altersgruppe nach drei Jahren erneut mit Präventionskampagnen begonnen wird. In Zukunft werden diese Präventionsprogramme auch verstärkt auf Migrantinnen und Migranten eingehen müssen. Im Zuge der Osterweiterung der EU und Wanderungsbewegungen muss Prävention ausgebaut statt reduziert werden.

Das Aidsvirus wird vermutlich noch Jahrhunderte auf diesem Erdball bleiben. Und es macht um Deutschland keinen Bogen.

Der Autor ist Sprecher der Deutschen Aids-Stiftung in Bonn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen