: „Ich bin ein nicht orthodoxer Orthodoxer“
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Alexander Brenner, erinnert sich an seinen Vorgänger Heinz Galinski, der vor zehn Jahren starb. Die Gemeinde hat sich in dieser Zeit stark verändert. Sie ist heterogener, säkularer und älter geworden. „Die Frage ist: Was macht die nächste Generation?“
Interview PHILIPP GESSLER
taz: Herr Dr. Brenner, vor zehn Jahren ist Heinz Galinski, früher Chef des Zentralrats der Juden und über ein halbes Jahrhundert Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlins, gestorben. Ein richtig angenehmer Mensch war er nicht.
Alexander Brenner: Je nachdem. Welcher Chef einer jüdischen Gemeinde ist schon für alle Mitglieder ein angenehmer Herr? Wenn Sie sich unter den Mitgliedern der Gemeinde umhören, werden Sie sehr viele Meinungen hören über den jeweiligen Vorsitzenden – über Herrn Galinski, über seine Nachfolger und über Herrn Brenner. Für mich war er ein sehr angenehmer Mensch.
Was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie heute an Galinski denken?
Er war ein sehr durchsetzungsfähiger Mann. Er griff energisch durch in der Gemeinde. Er hatte es leichter als ich – es waren andere Umstände damals.
Er war sehr autoritär.
Das wird man – egal ob es stimmt oder nicht – auch von mir behaupten. Auch ich habe das manchmal von meinen jeweiligen Chefs gesagt.
Heinz Galinski hat die Gemeinde straff geführt. War das nicht besser so – wenn man sich etwa manche Sitzungen des Gemeindeparlaments, der Repräsentantenversammlung anschaut …
Eindeutig: ja.
Warum machen Sie es dann nicht auch so?
Weil wir jetzt andere Zustände in der Gemeinde haben. Früher gab es zwei Fraktionen in der Repräsentantenversammlung, einen gewissen Fraktionszwang. Er hatte auch immer eine Mehrheit, die ich nicht habe, da nun jeder Repräsentant für sich abstimmt.
Wenn Galinski heute zurück auf die Erde kommen würde: Würde ihm das Bild der heutigen jüdische Gemeinschaft in Deutschland gefallen?
Das jüdische Leben ist heterogener geworden. Und in den vergangenen zehn Jahren sind sehr viele aus den Ländern der früheren UdSSR gekommen. Mittlerweile machen sie 70 Prozent der Gemeindemitglieder aus. Drei Generationen lang waren sie völlig abgeschnitten von jeglicher jüdischen Kultur. Bei mir wäre es genauso gewesen.
Wie viel Prozent der jüdischen Neuankömmlinge werden Mitglieder der Gemeinde?
Nur ein Teil, vielleicht 50 Prozent. Und viele von ihnen stammen aus interkonfessionellen Ehen. Ganz abgesehen von der Definition, wer Jude ist – das ist ein delikates Problem. (lacht)
Man kann den Eindruck gewinnen, dass viele neue Mitglieder die Gemeinde nur als Service-Station oder Treffpunkt begreifen und die religiöse Seite gar nicht wichtig ist.
Es ist eine alte Tradition im Judentum, dass man sich um die Alten und Bedürftigen in der Gemeinde kümmert. Dass manche vor allem diese Seiten der Gemeinde nutzen, ist nicht ungewöhnlich.
Ist die Integrationskraft kleinerer Gemeinden überspannt? Manche gleichen nur noch russischen Kulturvereinen.
Wenn es hier 70 Prozent Neumitglieder sind, sind es in kleineren Gemeinden manchmal 95, gar 100 Prozent. Und es ist klar, dass die Leute, wenn sie zusammen sind, die Sprache sprechen, die sie am besten beherrschen.
Sie wurden gewählt, weil Sie Russisch konnten.
Vielleicht. Ich glaube, es gab zwei Gründe: Ich war lange im Ausland, weswegen nur wenige Leute etwas gegen mich hatten. (lacht) Und eben die Sprache: Wenn ich mit den Leuten in ihrer Sprache spreche, fällt eine gewisse Hemmschwelle.
Sie sind aufgewachsen in der Welt des klassischen osteuropäischen Judentums, das durch die Nazis zerstört wurde. Fühlen Sie sich manchmal wie einer der letzten Überlebenden?
Wir fühlen uns alle als welche der wenigen Überlebenden. Das ist ja auch so. Jeder von uns hat viele Verwandte verloren. Das ist ja ein reiner Zufall, dass man geblieben ist. Ein reiner Zufall. Die Nachkommen leben hier nur, weil ihre Eltern durch Zufall am Leben geblieben sind.
Fühlen Sie noch Wehmut über diese vergangene Welt?
Über diese jüdische Welt auf jeden Fall. Ich habe in den vergangenen Jahren die Welt des Jiddischen entdeckt. Früher hatte ich da eine gewisse Arroganz. Ich wuchs ja auf in einer säkularen Familie. Ich war ja noch ein kleines Kind, als der Krieg ausbrach. Die jiddische Literatur ist viel reicher als die gesamte neu-hebräische – da geht es nicht nur um Klezmer.
Welche Rolle spielt bei Ihnen da der Glaube?
Der Glaube spielt bei jedem Menschen eine Rolle. Das wird auch der antireligiöseste Jude zugeben: Wenn die Juden sich über Jahrtausende als Volk erhalten haben trotz der Verfolgungen und Zerstörungen, liegt es in erster Linie an der Religion.
Aber bei Alexander Brenner persönlich?
Ich bin ein nicht orthodoxer Orthodoxer. Ich gehe in die orthodoxe Synagoge, weil ich in diesem Ritus aufgewachsen bin. So oft aber nicht. Nur so oft ich kann.
Beten Sie morgens und abends?
Nein, dazu komme ich nicht. Aber ich habe Respekt vor allen, die das tun. Man muss ja nicht immer gleich die Schläfenlocken tragen. Das ist ja auch nur eine Richtung in der Orthodoxie.
Was ist für Ihr Leben wichtiger: das religiöse oder das kulturelle Element des Judentums?
Beides. Ich kann da keine Prioritäten setzen.
Aber Sie reden von Jiddisch, von der Kultur, der Geschichte – aber relativ wenig vom Glauben.
Gut, für die Juden ist Religion gleichzeitig Geschichte und Religion.
Die Holocaust-Generation stirbt aus. Braucht die Gemeinde eine Identität, die eher religiös als geschichtlich geprägt ist?
Ich glaube, wir haben sie bereits. Selbst die säkularen Juden gehen einmal im Jahr in die Synagoge. In Israel gibt es sogar eine antireligiöse Partei.
Was ändert sich durch das Aussterben dieser Generation?
Die Frage ist, ob die jüdischen Gemeinden fortleben werden. Wir sind – trotz der Zuwanderung – eine überalterte Gemeinde. Die Zahl der gemischten Ehen nimmt zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein jüdisches Mädchen einen jüdischen Jungen heiratet ist 1 zu 1.000. Es gibt ja genauso viele hübsche Nichtjüdinnen. Die Frage ist: Was macht die nächste Generation? Bleibt sie jüdisch? Wir haben das gleiche Problem auch in Amerika.
Haben Sie den Eindruck, dass der Holocaust für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft immer unwichtiger wird?
Antisemitismus gibt es auch in Frankreich oder Russland, aber dieser Massenmord, nur weil man als Jude geboren wurde, ist etwas singulär Deutsches. Sich von dieser Geschichte zu lösen, wird kaum gehen. Dies kann instrumentalisiert, demagogisiert, emotionalisiert werden. Die ständige Erinnerung an den Holocaust – Sie können das auch bei einem Teil der jungen Generation sehen – erzeugt auch einen gewissen Widerwillen. Deshalb fallen solche Vergleiche wie „Die Israelis sind wie die Nazis“ auf einen nicht unfruchtbaren Boden; das ist vergangenheitsbefreiend für sie.
Ärgert es Sie, dass öffentlich so schnell mit dem Holocaust argumentiert wird?
Sicher gibt es eine gewisse Inflationierung des Begriffs. Aber das gilt ja für alle diese Ismen, etwa für den Faschismus. Der Begriff wird platt gewalzt.
War die Möllemann-Debatte ein Tabubruch: dass nun wieder öffentlich antisemitisch argumentiert werden darf?
Es war kein Tabubruch, aber ein Ventil. Ein Ventil für den akkumulierten, aufgestauten Antisemitismus. Denn niemand ist ja hierzulande ein Antisemit. Aber dann gibt es Karikaturen wie diese in der Süddeutschen Zeitung vom 2. Mai dieses Jahres (zeigt eine Karikatur), auf der tote palästinensische Menschen aufgeschichtet in der Schaufel eines israelischen Baggers gezeigt werden – wie bei der Befreiung des KZ Bergen-Belsen durch die Briten im April 1945.
Man könnte sarkastisch sagen: Überall in Europa gibt es Antisemiten. Wenn sie nun in Deutschland auftreten, ist das eine gewisse Normalisierung.
Das wäre makaber, wenn das zur Normalisierung gehört. Von den Deutschen, die in den Medien mitbestimmen, kann ich ein zusätzliches Fingerspitzengefühl verlangen. Zum Beispiel das hier. (deutet auf die Karikatur)
Ist die besondere Sorge der deutschen jüdischen Gemeinden für Israel nicht eine zweischneidige Sache, da dann manche argumentieren, sie gehörten nicht wirklich dazu?
Wissen Sie, das stört mich nicht. Das ist eine projüdische Position. Und diesen Vorwurf der doppelten Loyalität, den gab es schon immer. Die Versuche eines Teils des deutschen Judentums, deutscher als deutscher, päpstlicher als der Papst zu sein, haben zu nichts geführt. Dieser Vorwurf geht wie ein roter Faden durch die jüdische Geschichte.
Bereuen Sie, dass Sie nach dem Krieg nicht nach Israel ausgewandert sind?
Diese Frage stellt sich oft. Sie stellt sich bei fast allen Juden. Ob ich das bereue? Sicher, die Wunden werden manchmal sehr schnell aufgerissen. Das haben Sie bei Bubis auch gesehen. Diese Frage stellt sich immer wieder. Aber ich kann Sie Ihnen jetzt nicht beantworten.
Was müsste passieren, damit Sie nach Israel auswandern?
Es geht nicht um Israel. Die Frage wäre, wann ich Deutschland verlassen würde. Es gibt da auch so eine Art Trotzreaktion: Will man erreichen, dass Deutschland judenfrei sein soll? Das ist die Gegenfrage. Haben wir richtig gehandelt? Allein dass sich die Frage für manche Juden in Deutschland stellt, spricht für sich. Wenn selbst gestandene Politiker so etwas sagen – was geht dann vor in Stammtischgesprächen?
Erfüllt Sie das nicht mit Stolz, sagen zu können: Fast 60 Jahre nach Hitler sind die deutschen jüdischen Gemeinden die am stärksten wachsenden in ganz Europa?
Naja, die Gemeinden in Dresden oder an der Ostsee waren bei null. Da ist ein prozentual schnelles Wachstum schnell zu errechnen. Dies ist aber zum Teil irreführend.
Immerhin: Die deutsche jüdische Gemeinschaft ist wieder die drittgrößte Westeuropas.
Ja, aber die osteuropäischen Gemeinden wurden ja vernichtet. Davon muss man immer wieder ausgehen.
Wir haben angefangen mit Galinski und seinen Tod vor zehn Jahren. Wie ist das bei Ihnen: Sie sind 71 Jahre – denken Sie über den Tod schon nach?
Welcher Mensch tut das nicht in meinem Alter? Man versucht das zu verdrängen. (lacht) Ich bin ja nicht immer gesund. In diesem Alter hat man seine Wehwehchen. Es wäre unnatürlich, wenn man nicht ab und zu darüber nachdenken würde.
War es denn schon einmal knapp bei Ihnen?
Nein. Ich habe zwei Bypässe. Das ist heute eine Routinesache.
Aber Sie rauchen weiter.
Leider. Sie sehen es ja. Ich will das wieder aufgeben.
Manche sagen ja in der Gemeinde, Brenner sei integer, aber gesundheitlich nicht fähig, den Job zu machen.
Es gibt Leute, die sagen, er ist ein integrer Mann – aber es gibt auch Leute, die was anderes sagen.
Gesundheitlich fühlen sie sich fit genug für den Job?
Jein, kann man sagen. (lacht)
Der frühere Zentralratspräsident Ignatz Bubis hat am Ende seines Lebens bestimmt, er wolle in Israel beerdigt werden. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Diese Frage verdränge ich noch … (lacht) Aber vor diesem Dilemma stehe ich auch.
Was spräche für Israel?
Dasselbe wie bei Bubis: dass es nicht zu Schändungen von jüdischen Friedhöfen kommt. Dass es nicht immer bewacht werden muss. Außerdem habe ich dort Verwandtschaft.
Sind Sie denn bisher zufrieden mit dem, wie Ihr Leben lief?
Doch. Großenteils ja. Ich hatte ja bisher ein spannendes Leben.
Was haben Sie sich denn noch vorgenommen?
Ich will, deswegen wurde ich ja auch gewählt, die Differenzen in der Gemeinde ein wenig überbrücken. Aber bisher gelang es mir nicht ganz. Ich hoffe immer noch, dass es mir gelingt.
Wollen Sie noch eine Legislaturperiode machen?
Diese Frage kann ich Ihnen jetzt noch nicht beantworten.
Galinskis Grabstein wurde zerstört – wissen Sie schon, was auf Ihrem stehen soll?
Wie gesagt: Ich versuche, diese Fragen noch zu verdrängen. Aber Sie haben Recht: Man muss sich damit beschäftigen, realistisch sein. Aber noch nicht. Noch nicht so genau.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen