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Die Lücke im System

Mut zum Risiko? Beim ZDF eher die Ausnahme. Ins Programm geraten junge, vielversprechende Regisseure fast nur über das „Kleine Fernsehspiel“. Heute startet dessen Sommerreihe „Gefühlsecht“

„Manchmal knarrt es im Erzählgetriebe, aber damit können wir leben.“

von CHRISTIAN BUSS

Der Blick der ZDF-Gewaltigen richtet sich seit einiger Zeit großmütig nach Osten: Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung hat man in Mainz festgestellt, dass sich auch in den neuen Bundesländern Geschichten zutragen, die es wert sind, erzählt zu werden. Im Frühjahr probierte man es erst mal mit dem Politschwank „Liebesau“, der zur Primetime DDR-Folklore verbreitete. In Zukunft, so ordnete ZDF-Intendant Markus Schächter zum Amtsantritt im März an, wolle man sich noch mehr den Menschen aus jener Region widmen, die beim Zweiten jovial „die andere Heimat“ genannt wird.

Nun hat jedes System, so starr und zentralistisch es anmutet, seine Lücken. Das kleine Fernsehspiel verkörpert so eine Lücke im Apparat des ZDF. Im Gegensatz zur Mutterredaktion erscheinen die Entscheidungsprozesse in dieser relativ autark arbeitenden Abteilung unkompliziert. Die Ergebnisse sind entsprechend: meist authentisch, manchmal visionär – und vereinzelt grottenschlecht. Nur eines nicht: ödes Mittelmaß.

„Gefühlsecht“ nennt die Redaktion des kleinen Fernsehspiels eine Reihe, mit der sie jedes Jahr im Sommer aus dem Schattendasein des Nachtprogramms in die „zweite Primetime“ nach 22 Uhr tritt, um vielversprechende Erstlingswerke zu präsentieren. Ob Christian Petzold, Fatih Akin oder Oskar Roehler – fast alle hiesigen Filmpreisabsahner haben beim kleinen Fernsehspiel debütiert. Weshalb die Mächtigen beim Zweiten sich davor hüten, die schwer zu kontrollierende Dienststelle zu schließen. Kostengünstiger lassen sich die Regiestars von morgen nicht ausbilden. Doch die Redaktion gewährleistet nicht nur die Nachwuchspflege, sie nimmt auch Entwicklungen vorweg, für die der bürokratische Koloss ZDF ansonsten viele Jahre und noch mehr Absichtserklärungen benötigt. Eine Werkstattreihe mit dem Titel „Ostwind“, in denen Arbeiten aus den neuen Bundesländern zu sehen sind, ist fast schon abgedreht. Und während die ZDF-Bosse noch den „nahen Osten“ per Dekret ins Programm einbinden, öffnen sich die Arbeiten der diesjährigen „Gefühlsecht“-Debütanten gleich in Richtung des ganzen ehemaligen Ostblocks. So sind drei Filme im kleinen Grenzverkehr zu exsozialistischen Ländern entstanden.

Das mit dem kleinen Grenzverkehr lässt sich wörtlich nehmen – zumindest für „Weg!“ (9.8., 22.50 Uhr) von Michael Baumann. Hier verschlägt es einen 16-Jährigen von Berlin nach Tschechien: Ben hängt mit Graffiti-Sprayern auf Abstellgleisen ab, raucht einen Joint, flüchtet vor der Bahnpolizei in einen Zug, schläft knallbreit ein und wacht in Tschechien auf. Da lernt er ein Mädchen kennen. Endlich! Pubertät meint hier absolute Passivität; selbst die Flucht vor den Eltern erledigt sich im Liegen. So rattert „Weg!“ angenehm gleichförmig dahin wie ein Interregio durch die sächsische Provinz.

Dass Alltag vor Demarkationslinien nicht Halt macht, zeigen auch andere „Gefühlsecht“-Beiträge. Dabei war das wiederkehrende Thema der Grenzüberschreitungen Richtung Osten keineswegs vorgegeben: „Die Filme spiegeln ganz einfach die Entwicklung der letzten Jahre wieder“, erklärt Redakteur Jörg Schneider nicht ohne Stolz. „Große Themen“ finden deshalb ganz selbstverständlich Eingang in lebensnahe Geschichten. So auch in Achim von Borries’ Großstadtmelodram „England!“ (heute, 22.45 Uhr), mit dem die Reihe eröffnet wird. Darin wird vom Glücksritter Valeri erzählt, der sich einst nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl an den Aufräumarbeiten beteiligte. Schon damals träumte er von England. Fast 15 Jahre später bleibt er beim illegalen Transfer ins Traumland im winterlichen Berlin hängen. Der ukrainische Freund, den er hier besuchen wollte, ist schon tot. Die blutende Nase Valeris deutet es an: Auch er ist strahlenkrank. Er arbeitet in einem Restaurant ohne Gäste und wohnt bei einem Maler ohne Erfolg. Dass sich über die düstere Hauptstadtkulisse ein feiner Glanz legt, ist vor allem dem russischen Hauptdarsteller Ivan Shvedoff zu verdanken, der den Todgeweihten als unerschütterlichen Optimisten spielt.

Zu einem gewissen Starruhm hat es auch Nina Proll aus dem preisgekrönten Plattenbau-Fresko „Nordrand“ (26.7., 22.50 Uhr) gebracht. Die Österreicherin blickt als chancenloser Vorstadt-Twen so mürrisch drein, dass schon der Anflug eines Lächelns wie ein Sonnenstrahl wirkt. In Barbara Alberts ansonsten sonnenlosem Sozialdrama von 1999 werden Impressionen aus der Peripherie Wiens aneinander gereiht. Es geht um Kindesmissbrauch und Abtreibung, Liebe und Freundschaft. Dabei schieben sich sukzessive die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien vor die Handlung – erst als Fernsehbilder, später in Form von Flüchtlingen. Mag „Nordrand“ auch Schwachstellen in der Erzählweise haben, so beeindruckt doch die Tiefe.

Über handwerkliche Unreinheiten schaut man beim kleinen Fernsehspiel schon mal hinweg. Redakteur Schneider salomonisch: „Nun ja, manchmal knarrt es im Erzählgetriebe, aber damit können wir leben.“ Das hat nichts mit Gutmütigkeit zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass eine gute Geschichte technische Mängel verkraftet – die ausgefeilteste Technik aber keine schlechte Geschichte. So ist denn auch ausgerechnet Martin Eiglers aufpolierter Gangsterfilm „Freunde“ (2.8., 22.50 Uhr), der mit Stars wie Benno Fürmann auffährt, der langweiligste Beitrag. Das allzu offensichtlich an Scorsese angelehnte Melodram um Freundschaft und Verrat nervt mit manieristischen Bar-Aufnahmen und einem erschütternd schlichten Geschlechterbild. Einschalten sollte man indes unbedingt bei Maria Speths „In den Tag hinein“ (16.8., 22.50 Uhr), einer Ballade übers Nichtstun. Als wäre das Wort „Slacker“ gerade erst erfunden worden, werden hier in kühlen Bildern die zentralen Verrichtungen des Lebens vorgeführt: essen, rauchen, in der Badewanne liegen.

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