: Flaschenpost von 41
Mietje Bontjes van Beek wuchs in einer Künstlerfamilie in Fischerhude auf. Künstlerin wollte sie nie werden – wurde es aber doch
Eine Künstlerfamilie erkennt man daran, dass die Kinder ihre Eltern selbst im Vorschulalter nicht „Mama“ oder „Papa“ nennen, sondern zum Beispiel „Olga“ und „Jan“. Ständig kommt Besuch von weit her, aus Bayern die Großmutter, aus Berlin die Künstlerkollegen – einer davon heißt Fritz Mühsam und der ist nicht nur witzig, er ist auch einer, der gerne Kinder zeichnet – zumindest privat. Derweilen sitzt in der Küche ein Philosoph namens Theodor Lessing und erzählt den Kindern die abstrusesten Märchen.
Später, in der Schule, erkennt man die Künstler-Töchter daran, dass sie nicht stricken können und daran, dass die Lehrerin sagt: „Ist ja kein Wunder. Deine Mutter kann auch nicht stricken.“ Schöne, idyllische Künstler-Welt in Fischerhude – allerdings nur bis 1933.
„Die Kinder aus dem Dorf traten geschlossen der Hitlerjugend bei. Uns Bontjes-Kindern gelang es, den Eintritt in eine nationalsozialistische Jugendorganisation zu umgehen.“ Im November 1938 hilft die Familie Bontjes van Beek einem Juden bei seiner Flucht nach England. Alles geht gut. Mietje schreibt später: „November in Fischerhude – Nebel mit überschwemmten Wiesen – Schreie der Wildgänse – ein politisches Weltall nun?“
Ein politisches Vakuum jedenfalls erwartet sie in Berlin, wohin sie ihrem Vater und ihrer Schwester Cato 1940 folgt: Vater Jan macht dort einen Keramik-Betrieb auf, in dem Cato lernt. Mietje, gerade 18, studiert Kartographie, sie wollte „nie Künstlerin werden.“ Vielmehr beschäftigt sie Nazi-Deutschland, der Siegesrausch: „Aus dem Radio tönte es immer lauter, wenn wieder ein Sieg errungen war, und aus allen Kehlen gellte uns ‚Heil Hitler‘ entgegen. Wir standen diesem grausigen Schauspiel fassungslos gegenüber.“
Auf dem Weg zur Arbeit, in der S-Bahn, begegnen Mietje jeden Morgen französische Kriegsgefangene. „Durch ein winzig kleines Fenster an der Trennwand zwischen den Abteilen konnte man während der langen Fahrt nur ihre Augen erkennen – leere, glanzlose Augen.“ Mietje beschließt, zu helfen. „Beim Einsteigen konnte man es immer einrichten, sich unbeobachtet unter die Gefangenen zu mischen. Mit gespielter Eile drängelte man sich durch einen Trupp, übergab einen Zettel oder nahm blitzschnell einen Brief entgegen. So entstand eine gefährliche ‚Untergrundpost‘.“
Die Franzosen erbaten sich Utensilien wie Seife, Medizin, Handschuhe und übermittelten Mietje Skizzen ihres Arbeitslagers mit Angaben, wo sie die Waren verstecken konnte. „Verbrennt diese Briefe!“ schrieben sie darunter. Das tat Mietje nicht. Sie steckte die Briefe in leere Flaschen, die sie vergrub.
1942 musste Mietje Berlin wegen einer Erkrankung verlassen, im gleichen Jahr wurde ihre Schwester Cato von der Gestapo als Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ verhaftet. Die Nazis verurteilten die 23-jährige Cato wegen Hochverrat und Feinbegünstigung zum Tode.
Für Mietje ändert sich damit alles. „Es war ein Erlebnis, dass sich tief im Körper festsetzt, und später kommen die ganzen Bilder dabei heraus.“ Später, das heißt bei Mietje Bontjes van Beek: 1983, als sie zurückkehrte ins Haus der Eltern und ins Atelier des Großvaters Heinrich Breling nach Fischerhude. In den Jahren dazwischen reiste sie viel, lebte 16 Jahre lang in Italien – auch als Künstlerin, allerdings als eine, für die die Natur der Ausgangspunkt ihrer Malerei ist.
Mit ihrer Rückkehr nach Fischerhude kamen auch die Erinnerungen zurück an die Bahnhöfe, die Menschentransporte und Arbeitslager. Es sind düstere, schemenhafte Bilder in Öl- und Mischtechnik, unmittelbar und zu verstehen, frei von Moden und Attitüden. „Ich male diese Bilder um etwas zu verarbeiten, nicht, um etwas loszuwerden“, sagt Bontjes van Beek und markiert damitden Unterschied zwischen Kunst und Kunsttherapie.
Zusammen mit der Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht“ wanderten ihre Bilder kürzlich durch deutsche und amerikanische Städte, zum Jahrestag der deutschen Kapitulation stellte sie in der Kathedrale von Coventry aus. Der emsige aktuelle Kunstbetrieb interessiert Bontjes van Beek dafür weniger, eine Galerie wäre ihr zu „fest und starr“. Auch kurz nach ihrem achtzigsten Geburtstag arbeitet sie drei Stunden vormittags und drei Stunden nachmittags im Atelier – und kümmert sich ansonsten um Archivierung, ganz praktisch, der Briefe beispielsweise, die als eingegrabene Flaschenpost zum Zeitdokument geworden sind. Klaus Irler
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