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Der Biologe des Buchs

Ökonomien des Dazwischen (3): Der Designer Bruce Mau glaubt an die Zukunft des Buches. Er gestaltete die hoch gelobten Bände der Zeitschrift „Zone“, gesetzt von einem fingerfertigen Croupier mit langer Erfahrung in europäischen Spielcasinos

von NILS RÖLLER

Man möchte es am liebsten streicheln, und wenn es nicht so hart und schwer wäre, dann könnte es gut als Kopfkissen dienen. Das sechshundert Seiten starke und zwei Kilo wiegende Buch „Life Style“ über Bruce Mau und sein Büro hat einen Umschlag, der Assoziationen an kühlenden und weichen Damast weckt. Es ist ein Buch, das in Wohnzimmervitrinen präsentiert werden kann und den Eindruck von betulicher Belesenheit weckt. Verstärkt wird dies durch die erste Fotografie, die eine amerikanische Vorgartenszene zeigt. Es könnte ein Still aus David Lynchs Film „Blue Velvet“ sein, und zwar der Szene, bevor das unheimliche blutende Organ gefunden wird.

Mau schafft in „Life Style“ ein Plateau stetiger Spannung und Erwartung des Horrors, der im Lager der westlichen Konsumgesellschaft jederzeit eintreten kann. Das Buch dokumentiert Maus Entwicklung von den ersten Arbeiten für lokale Gewerkschaften über die Zone-Books bis zur Installation „Stress“. Auf den letzten Seiten spricht er von der permanenten Überreizung der Sinne durch mehr als 16.000 Logos, die täglich die Aufmerksamkeit der Konsumenten der westlichen Welt befeuern.

Die Videoinstallation „Stress“, die in Wien und Toronto, dem Sitz von BMO (Bruce Mau Office), gezeigt wurde, führt in elektronisch bewegten Bildern ein ABC der Bedingungen heutigen Designs vor. Es ist eine pessimistische Sicht, die sich aber aufhellt, wenn man „Life Style“ studiert. Mau glaubt an die Zukunft des Buches, und er ist ein Biologe des Buchs, jemand, der Film und Computer nutzt, um bedruckten Seiten Leben einzuhauchen und deren Dynamik zu studieren.

Diese Biologie gelingt seiner Ansicht nach nur, wenn man engagiert recherchiert und sich Arbeitsbedingungen schafft, um die Inhalte zu studieren, die zwischen den Buchdeckeln zu gestalten sind. Den Mut dazu wecken die 12 Strategien von BMO. Sie sind im mittleren Teil des Buches zu lesen, kurz nach der langen Sequenz über die Zone-Books und vor der Folge kurzer Szenen, die seine Arbeit für The Schmidt Museum of Coca-Cola-Memorabilia in Eliszabethtown (Kentucky) oder das Elektrizitätswerk Minden Ravensberg darstellen. Fast blättert man dabei über die wenigen Seiten hinweg, die von der Zusammenarbeit mit dem Architekten und Urbanisten Rem Koolhaas an dem Buch SMLXL berichten. Beide hätten sich durch die Produktion des Buches beinahe ruiniert. Ursprünglich sollten 364 Seiten Dokumentation in 365 Tagen entstehen, aber das war der Praxis des Urbanisten Koolhaas nicht angemessen, und so sind es 1.345 Seiten geworden.

Die entscheidenden Strategien Maus sind Zeit und Maßstab. Er geht davon aus, dass für die Gestaltung die zeitliche und nicht nur die räumliche Orientierung eines Objekts entscheidend ist. Das Buch muss die Lesebewegungen, die der Leser ausführt, berücksichtigen. Durch den Wechsel von Bild und Text kann der mentale Filmprojektor im Kopf des Lesers in Gang gesetzt, beschleunigt oder verlangsamt werden. Also muss man die Zeit berücksichtigen, die jemand mit dem fertigen Produkt verbringt. Der Maßstab setzt das Produkt in ein Verhältnis zur Umgebung. Da ist zum Beispiel ein Autor, der wie Rem Koolhaas an Mega-Projekten gearbeitet hat. Sein Aufwand und sein Engagement, mit dem die Stadtlandschaft von Metropolen verändert wird, muss zwischen die zwei Dimensionen der Buchseite und die wenigen Zentimeter des Buchrückens gefügt werden. Und dann ist da das eigentliche Leben des Buches nach seiner Fertigstellung: Bestenfalls generiert es Ereignisse, die die Umgebung verändern. Deshalb ist es wichtig, dass zum Beispiel ein Buch über Stadtplanung selbst wie eine zu planende Stadt angelegt ist.

Manifeste versteht der Kanadier als „kulturelle Organismen, die im Kontext unserer schnell zerfallenden Informationen“ überleben. Maus Manifest sind die insgesamt zwölf Strategien, um trotz Stress und Abgabedruck nachhaltig zu recherchieren. Recherche steigert die Chance, Synergien zwischen verschiedenen Aufträgen herzustellen. Die aufwändige Type für den Zone-Reader „Incorporations“ hat zum Beispiel Verwendung in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles gefunden. Mau erwähnt, dass die Zone-Bücher nur deshalb so aufwändig wie Filme gestaltet werden konnten, weil er mit „Archie“ zusammengearbeitet hat. Archie war ein fingerfertiger Setzer, der jahrelang als Croupier in europäischen Spielcasinos gearbeitet hat. Archie konnte 200 Worte fehlerfrei in der Minute eingeben und zugleich Computer programmieren, die andere ausgemustert hatten. So wurde das Layout der 1/2 Zone, der bilderreichen Zeitschrift zum Urbanismus, an einem Computer programmiert, der während des Herstellungsprozesses keine Seitenansichten ausgeben konnte.

„Life Style“ enthält neben diesen in kleinerer Typo gesetzten Berichten auch Schilderungen in großzügigem Satz. Hier erzählt Mau von Begegnungen mit namentlich nicht genannten reichen Menschen aus dem Umkreis der Getty Foundation, die sich selbst sehr um das Buchdesign bemüht, ohne deren Unterstützung so schöne Bücher wohl nicht hätten entstehen können wie Koolhaas’ „SMLXL“ oder Maus „Life Style“. Damit die Recherche sich lohnt, muss also jemand den Humus schaffen, in dem diese gedeihen kann.

„Life Style – Bruce Mau“. Edited by Kyo Maclear with Bart Testa London: Phaidon Press Limited 2000

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