piwik no script img

peter ahrens über ProvinzEs kitscht das Rathaus

In Paderborn ist jeder Schützenkönig irgendwie ein Bayer – auch wenn er schon mal verheiratet war

Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen Dreiviertel-Nackigte auf Lastwagen rosa Flokati um nass geregnete Hüften trugen, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An die Träume von der Theaterkarriere, die im Kinderzimmer unterm Dach blühten. Wenn meine Schwester, mein Bruder und ich an Abenden in Kostümen aus dem elterlichen Kleiderschrank das nachspielten, was wir vorher im Fernsehen aufgesogen hatten.

So wurden mit dem alten Grundig-Cassettenrecorder die TV-Mehrteiler „Cagliostro“ und „Strick um den Hals“ aufgenommen, der Wortlaut abgeschrieben und anschließend mit Verve nachempfunden. Wir lernten verbissen Sätze wie „Magloire mag glauben, was er meint glauben zu müssen. Ich glaube Jacques“ und traten in jeweils sieben verschiedenen Rollen auf, was ständigen hektischen Kostümtausch zur Folge hatte. Bei einem dieser fliegenden Wechsel von Graf Cagliostro zur betörenden Andree Taverney stand plötzlich die Oma im Zimmer. Just in dem Moment, wo sich sämtliche Akteure gerade ihrer Kleider entledigt hatten, ohne jedoch schon die nächsten wieder anzuziehen. Ensetzt über so offen dargebotenen moralischen Verfall, Gottlosigkeit und entsprechend viel nackte Haut belegte sie uns mit einem Bann, und die Theaterträume waren vorzeitig verwelkt. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.

Wenn Menschen nach 20 Jahren in ihre Heimatstädte zurückkehren, überfällt sie gewöhnlich Melancholie, die aufgeschrieben dann meist so klingt: Da, wo das alte Kino um die Ecke war, ist heute eine Tanzbar. Die alte Eisdiele, an der wir uns als Teenager trafen, ist heute Tchibo Prozente, und da, wo ganz früher mal das Schaffott stand, ist heute Runners Point. Also das übliche nostalgische Gegreine, so wie man es von alten BAP-LPs über die kölsche Südstadt kennt. In Paderborn ist das anders: Zwar ist da, wo das alte Kino um die Ecke war, heute eine Tanzbar und die Eisdiele ist heute Tchibo Prozente. Aber da hinten vorm Rathaus, wo vor 22 Jahren der Kanzlerkandidat aus Bayern stand und Wahlkampf machte, steht heute immer noch ein Kanzlerkandidat aus Bayern und macht Wahlkampf.

An diesem Tag ist die Welt in Paderborn in Ordnung, wie sie nicht ordentlicher sein könnte. Das Schützenfest wird eröffnet, und Edmund Stoiber macht seine Aufwartung. Der Platz vorm Rathaus ist voll, die Schützen marschieren auf, es erklingt „Preußens Gloria“, hier findet sich eins zum anderen. Der Reporter der Heimatzeitung tauscht Küsschen mit der Frau vom Schützenoberst. Der Oberkreisdirektor strahlt, der Schützenoberst auch, der Prälat, der alte Schuldirektor, es fehlt eigentlich nur noch der Apotheker, dann wärs ein Klischeestück des frühen Tucholsky.

Im Rathaus überschlägt sich der Bürgermeister darüber, dass Bayern und Paderborner viele Gemeinsamkeiten haben: „Traditionsbewusstsein, Lebensfreude, Weltoffenheit“. Ohnehin habe die Stadt „immer schon Sympathien für bayerische Ministerpräsidenten“ gehabt. Manche sagen, heuchelt er, Paderborn sei das München des Nordens. Auf seinem Spickzettel steht noch, dass Bayern und Paderborner beide „feste arbeiten und Feste feiern“, aber dieses feine Bonmot hat er in seiner Aufregung ganz vergessen vorzulesen. Stattdessen bekommt der Kandidat ein Bild geschenkt, auf dem das Paderborner Rathaus vor weißblauem Himmel vor sich hin kitscht.

Kandidatenberater Michael Spreng steht daneben und verzieht keine Miene. Man kann für ihn nur hoffen, dass er sich seinen Teil denkt. Dann geht’s raus vors Rathaus, die Menschen applaudieren sich rote Flecken in die Hände.

Ein Kind schreit und wird sofort zum Schweigen gebracht. Genau wie die drei, die bei Stoibers Rede auf Trillerpfeifen pfeifen. Der Schützenoberst stimmt ein „dreifaches Horrido auf den bayrischen Ministerpräsidenten“ an und findet es wichtig, dass man nicht jeder Zeitströmung hinterherläuft. Das findet der Kandidat auch. Dann sagt er noch, dass er der Schirmherr aller bayrischen Gebirgsschützen sei. Dafür gibt’s wieder Beifall und vom Oberst eine Schützenmütze mit Eichenlaub. Radetzkymarsch. Anschließend schreitet der Kandidat die Front der Schützen ab. Die lachen ihm zu, ihr Tag ist gerettet, der Kandidat hat ihnen persönlich ins Gesicht geschaut.

Die Heimatzeitung schreibt anschließend, Stoiber habe in seiner Rede „Besinnliches und Nachdenkliches in Sachen Volk und Heimat“ gesagt. Dann erwähnt sie noch lobend den Schützenoberst, der „mehrfach Schlagzeilen gemacht hat, als er sich dafür einsetzte, dass in seinem Verband auch wieder verheiratete Männer die Königswürde erringen können“.

Der Kandidat bedauert, dass er nicht noch mitkommen kann auf die Schützenwiese, ein wenig feiern, aber der nächste Termin wartet. Dafür hat sich Jürgen Möllemann als Ehrengast angesagt.

Fragen zur Provinz?kolumne@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen