Die Kulturblüten von Orange

Die Ex-Bibliothekschefin sagt, niemand wolle nach der letzten Wahl noch gegen den Bürgermeister kämpfen

aus Orange DOROTHEA MARCUS

Die Sonne scheint, die pastellfarbenen Häuserfassaden leuchten und die Menschen sind glücklich. Sie lieben ihren schmallippigen Stadtvater Jaques Bompard, der durch die Straßen schlendernd hier und da ein Schwätzchen hält. Seit 1995 wird Orange von der rechten Front National regiert, und das über alle Maßen erfolgreich: Bompard ist der erste Bürgermeister seit dem Krieg, der wiedergewählt wurde – und das gleich mit 60 Prozent im ersten Wahlgang. „Die Menschen merken eben, dass alles besser geworden ist“, sagt der Kulturreferent und stellvertretende Bürgermeister Gilles Vivien. Der 52-Jährige sitzt auf dem Rathausplatz und trinkt gemütlich zwei Kir. Viele Menschen schütteln ihm die Hand, die Getränke werden vom Direktor der Bank bezahlt, der kurz vorbeischaut.

Die Horrorszenarien der Kultur- und Sozialbudgetkürzungen, von der Presse beim Regierungsantritt Bompards beschworen – für Vivien ist das die übliche Medienpropaganda: „Gehirnwäsche, mit dem Hammer eingetrieben“. Wer immer noch meine, dass unter der Front National das Kulturleben zum Erliegen gekommen ist, der lügt. Florieren nicht die „Chorégies“, Oranges berühmtes Opernfestival im antiken Theater, wie nie zuvor? Der Kulturetat liege bei 8,5 Prozent des Gesamtetats, höher als in jeder vergleichbaren Stadt. Allerdings ist der Posten Denkmalpflege darin enthalten, schließlich ist die Bewahrung des nationalen Erbes die wichtigste Aufgabe. Ein Tanzfestival, ein Jazz- und ein Mittelalterfest seien neu gegründet worden, behauptet Vivier. Das Tanzfest besteht zum Beispiel daraus, dass die drei privaten Tanzschulen von Orange einen Tag lang ihre Jahrespräsentation im antiken Theater aufführen dürfen.

Zu allem Überfluss hat Bürgermeister Bompard den Menschen im letztem Jahr ein eigenes Theaterfestival spendiert, gratis unter freiem Himmel – auch wenn Orange nur 28 Kilometer von Avignon entfernt ist, wo zeitgleich das größte Theaterfestival der Welt stattfindet. Die „Rencontres classiques“ von Orange sind dagegen in keinem Festivalführer der Provence verzeichnet, auch die internationale Presse ignoriert das achttägige Ereignis. Selbst die lokale Zeitungen schrieben im letzten Jahr kein Wort. Doch auch La Provence und Dauphiné, bisher kritisch gegenüber der FN, können nicht ignorieren, dass sich das Festival dieses Jahr etabliert hat, mit 65.000 Euro Subventionen, darunter eine Spende des Bankdirektors, der die Getränke des Kulturreferenten zahlt.

Als künstlerischer Leiter der „Rencontres classiques“, die heute zu Ende gehen, wird Jacques Lorcey vorgestellt: Er war vier Jahre lang Schauspieler an der Comédie Française, ist aber auch Autor und Lehrer. Er ist im vornehmen grauen Seidenanzug aus Paris gekommen, hat die fünf Stücke inszeniert, spielt in allen die Hauptrolle und ist auch verantwortlich für die Bühne und die wallenden Samtkostüme im Stil des 17. Jahrhunderts. Es ist sein Festival. „Ich will zeigen, was das französische Theater sein könnte, wenn es sich nicht zu diesem elenden Regietheater entwickelt hätte – wo der Regisseur wichtiger ist als der Autor und die Texte nicht mehr respektiert werden“, sagt er. Letztens hat ihm jemand vorgeworfen, er würde Theater für die Front National machen. Das findet er absurd – schließlich sei sein Theater ja frei von jeder politischen Botschaft.

Auch die Probleme der heutigen Gesellschaft sollen möglichst ausgeklammert bleiben. „Theater soll Zerstreuung sein, sonst können die Menschen gleich Zeitung lesen oder fernsehen.“ Bei den Klassikern Molière, Corneille und Courteline würden die Probleme der Welt zwar auch verhandelt, aber eben auf einer höheren, philosophischen Ebene. Um wirklich nicht mit der FN in einen Topf geworfen zu werden, die im Zusammenhang mit Kulturpolitik selbst für einen bekennenden Rechten etwas anrüchig klingt, gibt Lorcey seine Inszenierungen als „Hommage an Jean Vilar“ aus – der wird schließlich auch von den Linken verehrt.

Jean Vilar, Urvater des französischen Theaters, gründete das Festival von Avignon (siehe Kasten). Heute werde sein Geist dort aber restlos verraten, meint Lorcey und schimpft Avignon „degeneriert“, „elitär“ und „überfinanziert“. Lorcey verehrt Vilar, hat Bücher über ihn geschrieben, zitiert ihn häufig auswendig. Klagte nicht schon Vilar im Theater „das Verschwinden von Glauben, Ehre, Autorität und Hierarchie“ an? Wollte er nicht die „universellen Werte der nationalen Identität Frankreichs“ verteidigen? Lorcey will doch nichts anderes.

Seine Auffassung über Theater ist eine erstaunliche Mischung aus basisdemokratisch und autoritär: „Klassisch heißt, dass ein Stück Klasse hat und sich an alle Klassen der Nation wendet“, definiert er. Wegen des Mistrals sind einige Vorstellungen in den Prinzenpalast verlegt worden, wie das hässliche Achtziger-Jahre-Bauwerk von Bompard vollmundig getauft wurde. Er ist bis auf den letzten Platz besetzt, viele Kinder sitzen im Publikum und lachen ausgelassen über die Gerichtsfarce von Courteline oder die offensichtlichen Lügen Don Juans von Molière. Gespielt werden außerdem Corneille und Victor Hugo. Barocke Musik kommt vom Band, jeder Szenenwechsel wird stürmisch beklatscht. Die Schauspieler sind Profis, Lorcay hat sie mit Bedacht ausgewählt, denn sie müssen einen sauberen und natürlichen Ausdruck beherrschen. Tatsächlich ist es gut gespieltes, animiertes Boulevardtheater geworden.

Festivalchef Jacques Lorcey verabscheut das „elende Regietheater“ und liebt politikfreie Inszenierungen

Alle Eintrittskarten, über 4.000 Stück, sind vergriffen, niemand geht während der dreistündigen Vorstellung hinaus. Danach sind die Menschen begeistert: „Wunderbar gespielt“, „Man konnte alles verstehen“, sagen sie.

Aber die pittoreske Theateridylle bekommt Risse, wenn man mit anderen Bewohnern aus Orange über Kulturpolitik spricht. Zum Beispiel mit Catherine Canazzi, 46, ehemalige Leiterin der Bibliothek. Sie erzählt, wie seit 1995 das Comicfestival abgeschafft wurde, das Kulturzentrum Mosaik und ein alternatives Kino schließen mussten, die „Chorégies“ zwei Jahre lang nicht subventioniert wurden, als eine kleine Strafaktion, weil Bompard nicht, wie die anderen Bürgermeister Oranges, automatisch zu ihrem Präsidenten gewählt wurde.

Eine der kostspieligsten Aktionen der neuen Kulturpolitik war die Aufstellung einer Statue von Raimbaud II., nicht etwa der Dichter, sondern ein Graf von Orange. Nicht wenige meinen, dass die Statue nur deshalb feierlich errichtet wurde, weil er als Kreuzfahrer gegen die Araber kämpfte. Schwerer wiegt jedoch, warum Catherine Canazzi nun im nahe gelegenen Sorgues arbeitet: Im Rathaus begann man, Zensur auf die Anschaffungen der Bibliothek auszuüben, verlangte revisionistische Autoren, während es für andere Werke kein Geld mehr gab. Es war Canazzi, die Anfang 1997 die Kulturbehörde der Region alarmierte. Die folgende Untersuchung sorgte in Frankreich für Entsetzen.

Doch das ist Schnee von gestern. „Niemand hat nach den letzten Wahlergebnissen noch das Gefühl, dass es sich lohnt, gegen den Bürgermeister zu kämpfen“, sagt Canazzi. Im März gab es den letzten kläglichen Versuch eines versprengten Kommunistentrupps, nachzuweisen, dass es in der Bibliothek zu wenig antirassistische Werke gäbe. Doch was früher Liberation und L’Express auf der Titelseite hatten, schafft es heute kaum noch in die Lokalblätter, lacht Kulturreferent Vivien und bestellt einen dritten Kir. Er beherrscht es perfekt, seine Partei als verfolgte Demokraten in der allgemeinen Diktatur von links zu stilisieren. In der Bibliothek sei es damals schlicht um die Herstellung von „Meinungsvielfalt“ gegangen, außerdem wurde nur schlecht gesucht, die meisten vermissten Werke waren in Wirklichkeit doch vorhanden. Und nicht nur die Presse in Orange ist mittlerweile milde gestimmt – auch die Sozialisten sind auf rund 30 Mitglieder geschrumpft, die Kommunisten fast nicht mehr existent und die Protestorganisation „Alerte Orange“ seit einem Jahr aufgelöst. In Orange ist es friedlich geworden.