: Der Tag, an dem London verschwand
Der Regisseur Ben Hopkins mag keinen Realismus im Kino. Seine Groteske „The Nine Lives of Tomas Katz“ bedient sich bei biblischen Endzeitmythen, zitiert Dr. Mabuse und läuft stilistisch Amok. Langeweile kommt dabei nicht auf
Das Staatsvermögen von Großbritannien wird einfach so auf das Konto eines Rentners überwiesen. Der Minister fürs Fischereiwesen erklärt plötzlich einem Land im „Mittel-Fernen-Osten“ den Krieg. Erstklässler stecken ihre Schule in Brand, und alle Eingänge zu den Londoner U-Bahnhöfen verschwinden plötzlich. Die Apokalypse naht an diesem Tag der Sonnenfinsternis, kurz vor dem Wechsel des Milleniums, von dem uns der Brite Ben Hopkins in seiner grotesken Komödie „Die neun Leben des Tomas Katz“ erzählt.
Eine Katze hat neun Leben („tomcat“ ist das englische Wort für Kater), und in neun Leben wechselt auch der geheimnisvolle Fremde, der sich zum Beginn des Films mit den Füßen zuerst aus einem Straßen-Gulli herauswindet und dann ganz nach Belieben die Persönlichkeit der Menschen annehmen kann, denen er tief in die Augen blickt. Nur ein blinder Polizeichef ist sehend genug, um in ihm den Auslöser des drohenden Weltuntergangs spirituell zu erspüren, und er macht sich auf die Suche nach dem sterbenden Sternenkind, von dessen Leben unser aller Existenz abhängt.
Sind das erstmal genug absurd apokalyptische Visionen? Es geht noch weiter, denn für jede einzelne Sequenz des Films hat sich der Filmemacher Ben Hopkins solch einen tiefschwarzen Instant-Mythos ausgedacht: Gott ist nicht tot, sondern heißt Dave, und er kann vor einer Wand mit Überwachungskamera-Monitoren die ganze Welt ausknipsen, aber es reicht wohl fürs erste! Langweilig wird es Ihnen in diesem Film ganz bestimmt nicht. Ben Hopkins mag den Realismus im Kino überhaupt nicht („Ich lebe im ‚richtigen Leben‘, und das ist langweilig genug“), und ist nicht nur sein Plot bizarr, auch die Bilder dazu sehen so künstlich wie nur möglich aus.
Jede Szene ist stilistisch anders aufbereitet. Hopkins arbeitet mit verschiedenen Film- und Videoformaten, verfremdet die Bilder dann mit allen möglichen Techniken, beschleunigt, verlangsamt, überlagert sie, lässt sie rückwärts laufen, wiederholt sie wie in einer Endlosschleife usw. Manchmal ist das schon etwas anstrengend für den Betrachter: Der Film läuft stilistisch Amok, aber genau darum geht es Hopkins.
So gehäuft hat man Absonderlichkeiten selten in einem Film gesehen, trotzdem ist nichts an ihm ganz neu. Narrativ bedient er sich reichlich bei der Bibel, esoterischen Endzeitmythen, den Schauermärchen der Romantiker und den absurden Pointen von Monty Pythons Flying Circus. Stilistisch wird das expressionistische Kino von „Caligari“ bis „Dr. Mabuse“ nachempfunden, „Eraserhead“ von David Lynch lässt grüßen und der frühe Peter Greenaway wird direkt zitiert. All das wirkt eher zusammengeworfen als wohlüberlegt montiert, aber Hopkins gelingt es mit seiner überdrehten Fantasie und makaberem Witz den Zuschauer ständig zu überraschen. Und wenn einer sein Werk „a film found under a stone“ nennt, verzeiht man ihm vieles.
Wilfried Hippen
„The Nine Lives of Tomas Katz“ läuft von Donnerstag bis Dienstag in der Originalfassung mit Untertiteln im Kino 46
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen