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Verdi & Co. zeigen Krallen

Die Gewerkschaften erwachen nach Jahren der Zurückhaltung: Streiks auf dem Bau, in Schulen und Druckereien häufen sich. Jetzt ist der Einzelhandel dran. Weitere Arbeitskämpfe dürften folgen

Shopper, Bauherrn, Zeitungsleser oder Schüler – alle dieses Jahr schon Streikopfer

Aufgebrachte Angestellte mit Trillerpfeifen, Plakaten, Fahnen, Aufruhr – gestern war wieder Streiktag. Diesmal in den Real-Supermärkten in Habenhausen, im Weserpark, am Rolandcenter, in Ihlpohl, Bremerhaven und Spaden. In den Bremer Märkten des Discounters traten insgesamt 200 Beschäftigte in den Ausstand – „die Mehrheit der Leute, die Dienst haben“, erklärte Richard Schmid von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Der Streik sei „ein voller Erfolg“.

Es geht um mehr Geld: Die Arbeitgeber haben 1,7 Prozent mehr Lohn angeboten,Verdi will für den Einzelhandel 120 Euro mehr erkämpfen. Heute wird Wal Mart bestreikt. Es geht aber auch um mehr Macht: Ob Shopper, Bauherrn, Zeitungsleser, Schüler oder Buspassagiere – sie alle sind in diesem Jahr schon von Streiks betroffen gewesen. Die Zeit der Zurückhaltung scheint vorbei, die Gewerkschaften zeigen den Bossen in den letzten Monaten die Zähne. BSAGler streikten gegen das Tariftreuegesetz, Hafenarbeiter protestierten gegen die europäische Hafenrichtlinie. 2.500 Bremer Stahlwerker pausierten für mehr Lohn. Die IG Bau rief ihre Maurer und Poliere sogar zum ersten Ausstand seit 1949: In Bremen legte sie unter anderem den Space Park, den Hemelinger Tunnel und die Baustelle am Weserstadion lahm, nachdem 300 Protestler eine Fuhre Mist vor dem Baugewerbehaus abgeladen hatten.

Ganz vorne an der Streikfront: Die neu gegründete Gewerkschaft Verdi. Mitglieder im Land Bremen: 46.000 Drucker, Bahnfahrer, Postler und Verkäufer. „Anfang des Jahres gab es Kritik aus den eigenen Reihen – nur die IG Metall würde streiken“, sagt Thomas Warner vom Landesbezirk Bremen-Niedersachsen. Dann legten die Verdianer nach: Mal Ausstände in Briefzentren, dann Spontanstreiks bei Verlagen – und jetzt die Einzelhändler. Trotz Branchenflaute. „Wir müssen die Krallen zeigen, um den Trend gegen die Gewerkschaften abzuwenden“, erklärt Warner. Außerdem seien die Arbeitskämpfe die ganz natürliche Folge des Ablaufens vieler Tarifverträge. Meist forderten Verdi und Co. 6,5 Prozent, um am Ende bei drei Prozent mehr Lohn zu landen.

„Die Friedhofsruhe der 90er Jahre ist vorbei“, sagt auch Günter Warseva vom Bremer Institut Arbeit und Wirtschaft. An härtere Arbeitskämpfe müsse man sich gewöhnen. Einmal liege das an der politischen Großwetterlage: Gerade viele sozialdemokratische Regierungen in Europa hätten die Hoffnungen der Arbeitnehmer enttäuscht, nicht nur in Deutschland. „Auch die nächste Regierung dürfte die Aufbruchstimmung zu spüren bekommen“, meint der Sozialwissenschaftler.

Andererseits hätten die Gewerkschaften „zehn Jahre Lohnzurückhaltung geübt“. Auch wenn die Konjunktur derzeit lahme: „Die Arbeitnehmer können doch nichts dafür, dass die Wirtschaft schwächelt. Der richtige Zeitpunkt für Lohnerhöhungen ist nie“, betont Warseva. Und natürlich wollten die Gewerkschaftler auch gegen ihren Bedeutungsverlust ankämpfen. Berufstätige Frauen, neue Medien, flexible Arbeitszeiten: Lange hätten sie die Trends verschlafen, Mitglieder verloren. Also prophezeit Warseva, dass noch mehr von den Arbeitnehmervertretern zu hören sein wird. Der Grund: „Die Risse in der Gesellschaft werden größer.“

Kai Schöneberg

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