: Im Schatten da sein
Was macht den Sommer cool? Teil 4: Es heißt 25 Grad im Schatten. Es gibt den Schattenkönig. Man spricht vom Schattenreich. Für Jürgen Bünte und Inge Boy ist Schatten Licht – denn sie sind blind
aus Berlin WALTRAUD SCHWAB
Jürgen Bünte sieht den Schatten weiß. Der 65-jährige Rentner hat dabei nicht einfach das Licht-und-Schatten-Spiel entsprechend optischer Gesetzmäßigkeiten vertauscht und ist vom Positiv zum Negativ übergegangen. Cyborgs mögen das können, Bünte aber hat keine neue Seite im Buch der Wahrnehmung aufgeschlagen. Sein Einfluss in dieser Sache ist bescheiden, denn er ist blind.
Früh merkten die Eltern, dass mit dem Jungen was nicht stimmt. Wie oft hat er geweint, weil er glaubte, dass er – anders als seine Geschwister – nicht beschenkt worden sei. „Das ist ungerecht“, protestierte er, dabei lag das Mitgebrachte vor ihm in seinem Sehschatten. Damit aber war das Geschenk außerhalb jener Wirklichkeit, die ihm als Kind begreiflich schien.
Ein gesundes Auge sieht einen Winkel zwischen 120 und 180 Grad. Bei Bünte war das „Gesichtsfeld“ jedoch mit sieben Jahren schon auf unter 15 Grad geschrumpft. „Tunnelblick“ nennen Laien den Netzhautdefekt. Der helle Punkt am Ende zählt. Also sehe er vom Schatten aus ins Licht? Bünte korrigiert. Für ihn gab es keine Tunnelwände, deshalb auch keinen Schatten. „Da ist nur blanker Fokus, der immer enger wird.“ Orientierung im Raum ist unmöglich. Wohl aber konnte er noch lesen, als er schon fast blind war. Zwei Wörter im Blick. Später nur Buchstaben. Dann verschwand Grün. Gelb und Rot blieben am längsten. Danach wurde es weiß. Dunkle Schatten aber kennt Bünte aus der Erinnerung.
155.000 Blinde leben in Deutschland. Danach zu fragen, wie sie den Schatten sehen, wirkt frivol. Eine Laune. Dem Sommer geschuldet. Oder der Idee von Sommer. Etwas, das Sonne, das Licht voraussetzt und sich an einer Handvoll Metaphern spiegelt: Vom „Schatten unter den Augen“, dem Schattendasein oder Schattenkönig bis hin zum großen Finale: dem Schatten des Todes unweit des Schattenreiches. Melancholie schwingt allemal mit. Dass die Abwesenheit des Schattens auch der Metapher den Schrecken nimmt, weiß Bünte genauso gut wie Inge Boy. Sie erlebt die Erblindung als Blendung.
Menschen mit einen Sehrest von maximal 2 Prozent gelten als blind. Inge Boy gehört dazu, obwohl sie von Geburt an noch Schemen und Umrisse erkennt. Die möchte sie sich erhalten, wobei alles eine Frage des Lichts ist. „Wenn es sehr hell ist, stehe ich im Hellen im Dunklen“, sagt die 67-jährige Gesprächspsychotherapeutin. „Das Licht nimmt mir die Sicht und stürzt mich in den Schatten.“
Anders als Jürgen Bünte, der sich die Blindenschrift erst aneignete, als alles weiß war, ist Inge Boy schon während der Nazizeit auf die Blindenschule in Berlin-Steglitz gegangen. Dort lernte sie Brailleschrift und Schreibmaschine und dass Kinder von einem Tag auf den anderen dem Unterricht fern bleiben und niemand es wagt, nach ihnen zu fragen.
Die glücklichste Schulzeit erlebte Boy nach dem Krieg. Wegen der Polio-Epidemie durften Kinder nicht in andere Bezirke geschickt werden. Die elfjährige Kreuzbergerin bestand darauf, als Ersatz in die Schule um die Ecke gehen zu dürfen. Sie wurde zwischen die besten Schüler gesetzt, damit diese helfen können, sie besorgte sich die Lektüre aus der Blindenbibliothek und schrieb ihre Notizen und Arbeiten auf der Maschine. „Manchmal scheint mir, dass früher manches einfacher war“, sagt sie.
Inge Boy liebt den November. Das trübe Licht lässt sie die Umrisse wahrnehmen. Schnee und gleißende Frühjahrssonne dagegen machen sie blind. Sie braucht eine so stark abgedunkelte Brille, dass sie die Umrisse nicht mehr erkennt. Das Geheimnis ihrer Wahrnehmung, das sie dennoch alles sehen lässt, hat sie bisher nicht ergründet.
Wo Licht ist, ist kein Schatten. Wo Schatten ist, ist es hell. Im Koordinatensystem der Blinden löst sich das Sehen der Sehenden auf. „Meine Freiheit begann, als ich meiner Umwelt zu erkennen gab, dass ich nichts sah“, sagt Jürgen Bünte. Zu lange hat er Schatten nur mit Gegenständen verbunden, die ihm im Weg standen. Obwohl er heute mit seinem Stock ab Brusthöhe alles sehen kann, ist sein Kopf ungeschützt. Er hat Angst, es könne ihm etwas ins blinde Auge stechen.
„In der Dunkelheit sprechen Sehende lauter“, sagt Jürgen Bünte. „Ich horche im Dunkeln in mich hinein, um es zu verstehen“, erwidert Inge Boy.
Gern bitten Blinde die Schweigenden dagegen aus dem Lautschatten heraus. Auch aus dem Geruchsschatten. „Von Leuten, die nicht sprechen, kann ich mir kein Bild machen“, sagt Bünte. Er weiß aus Erfahrung, dass die visuelle Gesellschaft, die nur noch den Bildern glaubt, im Sinnesdunkel lebt: „Das Fehlen einer Eigenschaft ist der Schatten.“
Ein Prozent aller Blinden aber ist ohne jede Seherfahrung. Schatten und Licht sind für sie – aus der Perspektive der Sehenden – Fiktion und Fantasie.
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