:
Folge 8
11.9.2001, 9.00 Uhr
„Klappe jetzt, Lennie!“
George spuckte den Kaugummi in die Ecke.
„Reden tu nur ich, klar?“
„Logo, George, reden tust nur du!“
Sie standen vor Gerd Novitzkis Wohnung, Am Brunnenhof 10, Parterre rechts. George klingelte. Nichts regte sich. Er klingelte noch einmal und klopfte gleichzeitig vorsichtig an die Tür. Nichts. George blickte angespannt auf die Tür der Nachbarwohnung. Dann trat er ans Treppengeländer und horchte nach oben. Nichts regte sich.
„Vielleicht kommen wir von hinten rein, Lennie, über den Hof!“
Sie gingen die halbe Treppe wieder herunter. Lennie rutschte auf Novitzkis Fußmatte aus und knallte gegen die Haustür der gegenüberliegenden Wohnung.
„Idiot!“ zischte George. „Ruhig mal!“
Nichts regte sich.
„Na, wissen wir wenigstens, dass da keiner drin ist. Anständige Menschen sind ja auch vormittags auf ‘er Maloche, was, Dicker?“
George grinste und schob Lennie durch die Tür in den Innenhof. Novitzkis Balkon begann unmittelbar über ihren Köpfen. George blickte sich um. Im Innenhof zwei hohe, dicht belaubte Eichen. Von der gegenüberliegenden Seite gab es keine Einsicht. Auf dem Balkon nebenan war niemand, auch nicht in der dahinterliegenden Küche der Nachbarwohnung, soweit George sehen konnte.
„Hol mal den Mülleimer da hinten!“
Lennie trabte los.
„Eh, George! Guck mal, die Katze hier hat doch echt ‘ne Ratte am Genick!“ dröhnte er lauthals über den Hof. George war sofort bei ihm. Er packte ihn fest an den Haaren und hielt ihm mit der anderen Hand den Mund zu.
„Halt deine Fresse, du Depp! Wir sind nicht zum Picknick hier!“
„Aber, aber ... George ...“
„Nichts aber, aber! Nimm jetzt diese dämliche Tonne und stell sie unter den Balkon!“
George sprach gedämpft, bemühte sich aber streng und unnachgiebig zu wirken. Lennie gehorchte mürrisch. Als er die Tonne rechts neben dem Balkon platziert hatte, wollte er wieder etwas sagen. George hob blitzschnell die flache Hand hoch. Lennie duckte sich sofort unter seinem zur Abwehr hochgereckten linken Arm und blieb stumm.
„Du gehst als erster. Nu mach schon!“ Lennie ergriff das Balkongitter mit beiden Händen, bugsierte seine Füße mit Georges Hilfe auf die Mülltonne und drückte sich hoch.
Dann kam George. Als er auf der Tonne stand, stieß er sich so ab, dass sie umkippte. So fiel sie am wenigsten auf. Wenn sie den gleichen Weg zurück müssten, würden sie einfach springen. George hob eine kleine Gartenschaufel auf, zog seine Sommerjacke aus, knautschte sie zusammen und drückte sie gegen die Scheibe der Balkontür. Dann schlug er mit dem Schaufelgriff einmal kurz gegen die untere rechte Scheibenecke. Es knackte trocken. Er nahm die Jacke weg und grunzte zufrieden. Ein durchgehender Riss hatte die Ecke vom restlichen Fenster abgespalten, groß genug, dass eine Hand hindurchpasste.
Vorabdruck aus Holger Biedermann, Von Ratten und Menschen, Kriminalroman, erscheint am 28.8. bei Edition Nautilus Hamburg, 192 S., 12,90 Euro, © Edition Nautilus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen