: Der Kandidat der Herzen
Ende September wählen die Serben einen neuen Präsidenten. Der Kandidat der Sozialisten könnte Milošević heißen. Die Partei spekuliert auf seinen Opferbonus
BELGRAD taz ■ Die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) erwägt ernsthaft, ihren Vorsitzenden Slobodan Milošević als Kandidaten für das Amt des Präsidenten Serbiens vorzuschlagen. Zugegeben, es könnte mit der Kandidatur Probleme geben, etwa dass der Mann am Wahltag, dem 29. September, wohl immer noch im Sicherheitsgefängnis in Den Haag einsitzen und u. a. des Völkermordes angeklagt sein wird. Branko Ruzić, Funktionär der SPS, erklärte, wichtig sei die breite Unterstützung, die Milošević im serbischen Volk genieße.
Innerhalb der SPS weiß man eigentlich, dass eine formale Kandidatur unmöglich ist. Die Partei hofft jedoch, beim Wählervolk zu punkten, indem sie ihre Treue zu Milošević demonstriert. Neben Milošević wurden zwei weitere Kandidaten aufgestellt: der Ingenieur Milutin Mrkonjić und der Schauspieler Velimir Bata Zivojinović, der in Dutzenden Filmen heldenhafte Partisanen im Kampf gegen den Faschismus verkörpert hat. Sollte Milošević einem von ihnen seinen Segen geben, hofft man, dieser könne in die zweite Runde des Präsidentschaftswahlkampfs einziehen.
Aus serbischer Sicht verläuft der Den Haager Prozess positiv für Milošević. Viele Zeugen der Anklage wurden von ihm in die Enge getrieben. Nichts beweist bisher seine „Kommandoverantwortung“ für die ihm vorgeworfenen Verbrechen. Auch die Nachrichten von seinen gesundheitlichen Beschwerden bringen ihm Sympathien ein.
Serbiens größtes Problem bleibt, dass von Vergangenheitsbewältigung keine Rede sein kann. Ein nicht unerheblicher Teil der Serben glaubt immer noch an eine Verschwörung der Weltgemeinschaft gegen das serbische Volk. Milošević gilt als Vorkämpfer gegen eine von den USA, möglicherweise auch vom „Weltjudentum“ angeführte neue Weltordnung.
Aber auch jene, die Milošević – manchmal unter Lebensgefahr – auf Demonstrationen und mit dem Volksaufstand vom 5. Oktober 2000 gestürzt haben, verzweifeln am Vorgehen der Anklage in Den Haag. Der letzte Zeuge vor der Sommerpause, Exgeheimdienstchef Radomir Marković, wirkte eher als Zeuge der Verteidigung. Er behauptete felsenfest, von Verbrechen habe Milošević nichts gewusst.
Die schlimmsten Verbrechen des Milošević-Clans am eigenen Volk werden in Den Haag nicht verhandelt. Das drückt die Stimmung vor den Wahlen. Milošević wird wohl nicht bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren. Sein Geist aber ist da.
ANDREJ IVANJI
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen