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Allmählich setzt die Wirkung ein

Herzhaft, lieblich im Abgang. Wie schmeckt eigentlich Berliner Brauware? Der Selbstversuch eines Zugereisten

Es beginnt mit einem Prater Pils (21:57 Uhr). Die Luft hockt hitzegeschwängert in der Kastanienallee, der Biergarten quillt beinahe über. Leicht deplatziert fühlend setze ich mich auf den letzten Platz; neben mir, Männer mit bayerischem Akzent. Es geht los, der erste Schluck eines grandiosen Vorhabens: Heute durchtrinke ich Berlin, degustiere in willkürlicher Reihenfolge alles, was sich Bier nennt und in Berlin gebraut wird. Ich, ein Berner, aus der Schweiz ausgezogen, um fremden Phänomenen nachzuspüren.

Zuerst rieche ich an den 0,4 Liter Prater Pilsener, gebärde mich in der Art eines Weinexperten. Herb, schwer … ein erbärmliches Ringen um Begriffe, die nicht auf jedes Bier zutreffen. Dann ein kleiner Schluck: Ich zieh das Gebräu durch die Zähne, lass es schal werden im Gaumen. Herzhaft, lieblich im Abgang … Die Bayern schauen schon belustigt rüber. Ich geb auf, gieße mir mehrere kräftige Schlücke in den Rachen; vielleicht kommen die Worte später.

Meine Herkunft verbietet mir, mich hier als Bierexperte auszugeben. Helvetische Bierkultur ist vergleichbar mit der Deutschen Fonduetradition. Eine Wüste, ein Jammer im Tal. In der Schweiz wird Bier mit Zimmertemperatur getrunken, serviert im Suppenteller, eine Scheibe Ruchbrot darin eingelegt, die dann verstückelt wird – und das Ganze als Mus getrunken. Das ist zwar gelogen, aber Schweizer Bier schmeckt so.

Das erste Glas ist geschafft (22:06 Uhr), ich kippe Prater Schwarzbier nach (22:07 Uhr). Tiefschwarzes Gebräu hat etwas Suspektes, bemerke ich, sieht aus wie Cola und schmeckt auch nicht viel anders. Allmählich setzt die Wirkung ein, mein Hirn schaukelt leicht mit dem Takt der Sitzbank. Die Bayern stimmen „Es gibt nur ein’ Ruedi Völler …“ an und schunkeln. Ich trinke sofort aus und verlasse die Szene (22:26 Uhr).

Nach offizieller Statistik liegt mein Pegel bei harmlosen 0,7 Promille, was mich nicht daran hindert, über eine Stufe zu stolpern und im Kies liegend die Blicke des halben Biergartens auf mich zu ziehen. Das schätze ich an der Fremde: niemand kennt mich hier.

„An einem Sonntag im August …“, welch seltsamer Name für eine Beiz, aber da ich anscheinend genau in der richtigen Jahreszeit liege, setze ich mich hin und bestelle ein großes Berliner Pilsener (22:38 Uhr). Das kommt dann auch (22:46 Uhr). Berliner Pilsener hinterlässt einen metallischen Nachgeschmack und versetzt mich in Kindheitserinnerungen: Im Winter klebten wir auf dem Schulweg unsere Zungen an Ampelstangen. Dem Groll der Lehrerin über die chronischen Verspätungen an besonders kalten Tagen hatten wir eine überzeugende Ausrede entgegenzusetzen: Es ging nicht früher, physikalisch gesprochen.

Als Junge ging ich im Winter oft mit dem Skibob zur Schule, Marke Swiss Star. Als mir einfällt, dass ich mich hier am Prenzlauer Berg befinde, habe ich schwer, das Pilsener nicht auszuprusten. Berg, pöh, Bezeichnungen haben die hier. Trotz nun schon mehr als einem Promille im Blut, getraue ich nicht den jungen Frauen am Nebentisch von meinen erquicklichen Erkenntnissen zum schweizerisch-deutschen Kulturvergleich zu erzählen. Sie himmeln den DJ an, der jeden zweiten Übergang versaut. Ich bezahle und ziehe weiter, gefangen in der inneren Emigration.

Die Schultheiss-Flasche kaufe ich bei Ismail (23:24 Uhr). Ich notiere: „Keine Besonderheiten und keine Assoziationen zur behüteten Kindheit im Dorf.“ Neben mir tragen Jugendliche eine Alk-Leiche aus dem Tram, Spuckefäden hängen an ihm. Schon wieder stolpere ich über Fehler in der deutschen Sprache: Es heißt das Tram, nicht die Tram; in der Schweiz.

In der Bier Company gönne ich mir Prenzl-Bier, mit Berliner Leitungswasser gebraut, wie mich der Barkeeper sachkundig wissen lässt. Ob es daher wie Seifenblattern-Gemisch riecht und schmeckt, mag er mir nicht mehr beantworten. Als Kind hatte ich einmal Seifenblatter-Gemisch getrunken, die Kotze bestand aus lauter kleinen Blätterchen. Ich bin etwas beunruhigt, trotz oder vielleicht wegen den aktuellen 1,6 Promille.

Bei den letzten Schlucken Prenzl-Bier wird mir mein Projekt verleidet. Der innerer Berner will schlafen, mein innerer Neoberliner kauft sich – nochmals bei Ismail – eine große Dose Berliner Kindl. Auf dem kurvigen Heimweg versöhnen sich die beiden in mir aber bald wieder und führen zu meiner Unterhaltung angeregte Gespräche über Wappentiere.

SIMON JAEGGI

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