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Ein Wort zur Mode

Eine Kurzgeschichte

von JOCHEN SCHMIDT

Ich weiß noch, welche physischen Krämpfe mir Schlaghosen verursachten. Ich wachte nachts auf und vor meiner Nase lag auf einem Stuhl eines dieser Ungetüme. Mit großen runden Lederflicken auf den Knien. Die Hosenbeine waren mit Stoffbändern verlängert worden, die es im Intershop gab und auf denen „Jeans“ stand. Ich konnte nicht mehr einschlafen vor Kummer und hatte Angst vor der Zukunft.

Aber ich fand ein Gegenmittel: Gummilitze! Wenn meine Mutter es nicht machen wollte, machte ich es selber. Ich zog sie mit einer Sicherheitsnadel in den Saum der Hosenbeine ein und hatte mit einem Mal echte Popperhosen. Bei den Jeans benutzte ich die Nähmaschine und nähte sie so eng, bis die Füße kaum mehr durchpassten. Ich schärfte meiner Mutter ein, mir vom Begräbnis ihrer Mutter in Hamburg keine Schlaghose mitzubringen. Ich weckte sie nachts, um sie abzufragen, was ich von drüben wollte. Sie hörte auf mich und kam mit einer hellblauen, wattierten Skikombination zurück. Da wir drei Kinder waren, brachte sie gleich drei mit, und ich konnte mich darauf freuen, mit der Zeit in die Hosen meiner Geschwister hineinzuwachsen und nie mehr eine andere anziehen zu müssen.

Das tat ich auch bis zum Abitur. Wenn meine schon sehr ausgebleichte Hose in der Wäsche war, klaute ich morgens die Hose meiner Schwester. Sie stand damals sowieso mehr auf Karottenhosen, aber ihre Skihose war mir natürlich viel zu groß. Immer noch besser als mit einer Schlaghose oder in Boxer-Jeans auf dem Schulhof aufzukreuzen, und sich zum Gespött der Massen zu machen. In den Skihosen konnte ich mich absolut sicher fühlen vor jeder Verdächtigung, Ost-Klamotten zu tragen. Wenn ich doch einmal eine Hose anziehen musste, die ich nicht vorher präpariert hatte, zog ich meine Norwegersocken über die Hosenbeine. An Feiertagen auch weiße Tennissocken.

Dann kam der Tag unserer Jugendweihe. Ich war vorgewarnt von den Fotos, die ich von der Jugendweihe meines Bruders gesehen hatte. Jeweils zehn, nunmehr erwachsene Vierzehnjährige standen bedripst auf einer Festsaalbühne und sahen aus wie ein Kleckerhäufchen Elend. Jeweils drei bis fünf dieser zehn trugen die gerade im Handel erhältlichen Präsent-20-Anzüge aus dem Kontex-Kaufhaus am Bahnhof, alle in den gleichen Farben: gelbliche Stoffhose, grünliche Windjacke mit gelblichen Elementen.

Zu dieser Zeit hatten nicht nur die Mädchen Dauerwellen, sondern auch die Jungen, wodurch man die Geschlechter noch schwerer unterscheiden konnte. „Werdet ihr zuverlässige Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft?“ – „Ja, das glooben wir.“ Mein Bruder hatte auf seinem Foto eine Anzughose an, die zwar keinen Schlag hatte, sich aber unbarmherzig röhrenförmig und ohne jede Verjüngung in der Gegend der Beine aufhielt. So wollte ich nicht erwachsen werden, das wollte ich ja sowieso nicht, aber erst recht nicht um diesen Preis.

Die Mitschüler unterhielten sich längst über ihre erwarteten Geschenke, ich wusste ja, dass ich höchstens von der Stasi-Frau von schräg unten was kriegen würde, ich würde ja ein Jahr später konfirmiert und musste mich mit dem obligatorischen Kassettenrekorder noch gedulden. Aber ich machte mir Sorgen um mein Erscheinungsbild. Ich sagte meiner Mutter: „Im Intershop gibt’s gerade eine neue Jeanshose, könnte ich die nicht kriegen?“ Meine Mutter sagte etwas völlig Unerwartetes, etwas, was ich nie vergessen werde: „Ja.“

Ein Wunder! Sonst war ich es ja gewohnt, erst zu fragen, ob ich ein Mokka-Vanille-Eis aus dem Kühlschrank nehmen durfte, wenn ich es schon gegessen hatte. Bei einer Hose war das natürlich nicht möglich. Und es hat tatsächlich auch so funktioniert. Eine Jeans aus dem Shop! Und genau die, die meine letzte Ferienlagerfreundin im Winter getragen hatte, weshalb ich mich vermutlich überhaupt in sie verliebt hatte! Es wurde ein großer Tag, als wir mit der ganzen Familie und den engsten Vertrauten zur Friedrichstraße fuhren.

Ich hatte noch mehr Angst als sonst vor dem Dritten Weltkrieg, der sich noch zwischen mich und meine Jeans stellen könnte. Ich hatte sie den Mädchen in der Biostunde längst aufgemalt und stand bei ihnen im Wort. Die Mädchen, die nach und nach alle die rosa Stoffhose trugen, die es gerade gab, ich habe in Spitzenzeiten allein in unserem Klassenraum sechs Stück gezählt, sogar eine Lehrerin kreuzte damit auf. Reizvoll waren natürlich die ähnlich verbreiteten rosa Hemden, die an den Armen nur mehrere dünne Stoffträger hatten, so dass man nicht nur durch die Ärmel der Nachbarin einen Blick in die rosige Zukunft werfen konnte, nein, man konnte durch denselben Ärmel sogar noch die Brüste der Mädchen am Nebentisch sehen!

Wir hätten zusammen glücklich werden können, sie hatten etwas zu geben, ich war ein nimmersatter Rezipient, aber sie mussten ja zickig sein, dabei sollten sie nie schöner als damals aussehen. Ich malte ihnen also meine Hose auf: eine Reißverschlusstasche über dem Knie, hellblauer Jeansstoff, nie gesehene Taschenattrappen an den Seiten, die Knie gesteppt, an der Seite die Aufschrift: „Via Satellita“. Was immer das heißen mochte, man verstand es nicht, und das war das Entscheidende. Vielleicht war es ja sogar Englisch. Ich lotste meinen Clan an allen Gefahren vorbei in den Shop, wir kauften das Ding, und der Globus stand für einen Moment still.

Bei den Schuhen hatte ich mich von vornherein geweigert, irgendetwas Glänzendes zu akzeptieren. Am Ende fiel meine Wahl auf ein nagelneues Paar Wildleder-Tramper, das Stigma des ostdeutschen Abenteuerurlaubers. Ein bisschen troubadouresk mit ihrer Pappsohle, aber ein sicheres Erkennungsmerkmal, wenn man in Prag den Weg zu „U Fleku“ nicht fand und jemanden fragen wollte, der Deutsch konnte und diesen Biergarten schon einmal gefunden und selten wieder verlassen hatte. Das war die geeignete Form von Provokation für die verhasste Zwangsjugendweihe, an der nur unsere Katholikin nicht teilnahm, denn von den Katholiken verlangte man solche Dinge in der DDR nicht, die hatten schon genug mit ihrem Papst zu tun.

„Das glooben wir“, wiederholte ich mit allen anderen und betrat stolz das Podest, um „Vom Sinn unseres Lebens“ in Empfang zu nehmen. Hinterher gab es verdutzte Blicke von den Mitschülern, die Mädchen hielten sich ob meiner Tramper erschrocken die Hand vor dem Mund, diejenigen, die sie schon gesehen hatten, zogen andere herbei, um sie ihnen zu zeigen, ich fühlte mich aber ganz wohl, so im Mittelpunkt zu stehen, schließlich hatte ich einen Popperschnitt und keine Dauerwelle. Ich glaube, ich trug sogar ein Silberkettchen, wenn auch sicher nur unter dem Pullover.

Meine Lehrerin hatte im Prinzip nichts einzuwenden gegen meine Extravaganz, nur die Schrift „Via Satellita“ stieß ihr auf, ich hätte sie besser mit Pflaster verkleben sollen, monierte sie. Wahrscheinlich dachte sie, dass der Spruch irgendetwas mit Ronald Reagans SDI-Programm zu tun hatte. Tiefenpsychologisch ist das Schlaghosentrauma natürlich immer noch eine Forschungslücke. Wovor hat man Angst? Welches schlimme Geschick sollen Gummibänder in den Hosenbeinen von einem abwenden? Und was werden meine Kinder auf keinen Fall anziehen wollen? Ich weiß ja: alles, was ich trage. Mal sehen, ob ich ihnen etwas anderes kaufe. Ist doch eigentlich Quatsch, Hauptsache, es passt.

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