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sommerkrimi

Folge 15

15.30 Uhr

Merkwürdig still war es im Kommissariat, als Pieter Lund die Stufen zu seinem Büro hochging. Die Tür zum großen Konferenzraum stand sperrangelweit auf. Das Fernsehbild war mit dem Projektor an die Wand hinter dem Rednerpult geworfen. Ist das nicht Manhattan, New York? Tatsächlich, das World Trade Center. Der eine Tower brennt. Lund traute seinen Augen nicht. Jetzt! Da fliegt doch tatsächlich ein großes Flugzeug in den zweiten Tower! Ein Lehrfilm? Hollywood? Pieter Lund blickte sich um. Er sah nur stumme, entsetzte Gesichter. Nein, weder noch. Das ist die Realität! Wieder brach ihm der Schweiß aus. Wie beim Anblick der Leiche heute Mittag. Mein Gott! Wie viele Menschen sind da jetzt drin? Das konnte doch nicht wirklich wahr sein. Wer macht so etwas? Jetzt zeigten sie, wie das erste Flugzeug in den Turm flog. Wieder das zweite Flugzeug. Aus einer anderen Perspektive. Andere Bilder. Vom Pentagon. Auch dort war ein Flugzeug in einen Seitenflügel geflogen. Und vor dem US-Außenministerium explodierte eine Autobombe. Ist das Krieg? Kam ein neuer Weltkrieg? Jetzt sackte der erste Turm einfach in sich zusammen! Alle redeten durcheinander, im Fernseher genauso wie im Konferenzraum. Bilder von völlig verwirrten Menschen. Von völlig verdreckten Menschen. George Bush in einer Schule. Wie ein verstörtes Kind, dem man einen Ball weggenommen hatte. Urplötzlich stürzte auch der zweite Turm in sich zusammen. Wie ein Kartenhaus. Wie viele Kinder warteten heute in New Yorks Kindergärten vergeblich auf ihre Eltern? Er musste an Jakob denken. Wie immer, wenn ihn etwas überforderte, musste er an seinen Sohn denken.

Unablässig dieselben Bilder. Mit jedem Mal unwahrer, unfassbarer, unerhörter ...

*

22.00 Uhr

Pieter Lund blieb antriebslos im Wagen vor seiner Wohnung sitzen. Zwei Passanten kamen die Wohlwillstraße herunter, bewegten sich linkisch und seltsam steif. Angespannte Gesichter. Unruhig taxierten sie die Umgebung. So menschenleer ist die Stadt nur bei Fußballweltmeisterschaftsspielen. Heute läuft ein anderes Spiel. Um 18.00 Uhr hatten sie eine Krisensitzung im Präsidium. Teile von Polizei, BGS und Bundeswehr waren in Alarmbereitschaft. Morgen sollte in Hamburg eine Sonderkommission gebildet werden. Ungefähr 100 Mann stark. Lund ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. Er hatte heute eine Leiche entdeckt. Morgen würde er vielleicht keine Leute mehr haben, um der Sache nachzugehen. Was sollte das werden? Die Apokalypse? Vielleicht gab es morgen schon weitere Attentate. Oder weitere Leichen. Drehte denn die ganze Welt durch?

Vorabdruck aus Holger Biedermann, Von Ratten und Menschen, Kriminalroman, erscheint am 28.8. bei Edition Nautilus Hamburg, 192 S., 12,90 Euro, © Edition Nautilus

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