Im tiefen Tal der Unschuld

Stuart Davids „Wie Nalda sagt“ ist eine Fluchtbewegung vor dem Erwachsenendasein

Filme, die diesen Anfang nehmen, versprechen meistens gut zu werden. Man sieht eine Idylle, ein Haus und ein Baum, eine Schaukel für Kinder oder so. Aber irgendwas stimmt nicht. Manchmal ist es ein plötzlicher Windstoß, der ein Stück Müll in den Garten weht, manchmal liegt es an der Menschenleere. Im besten Fall aber ist es nichts, was man sehen könnte. Eher liegt es an der Kamera, die auf jedem einzelnen Gegenstand einen Tick zu lange ruht.

Die kleine, feine Welt, an der etwas faul ist, weil bei dem, der sie sieht, etwas aus dem Ruder gelaufen ist: Das ist der Motor, der Stuart David bei den meisten Dingen, die er tut, zu benutzen scheint. Auch sein erster Roman „Wie Nalda sagt“, funktioniert auf diese Art. David erzählt die Geschichte eines jungen Ich-Erzählers, der außerhalb von Raum und Zeit geraten ist, der genau genommen noch nie drin war. Aufgewachsen im Wohnwagen seiner schrulligen Tante Nalda, ist er kaum in der Lage, mit Menschen in Kontakt und irgendwie auf den Boden zu kommen.

Das einzige, was ihm Nalda beigebracht hat, ist: gärtnern. So zieht er von Garten zu Garten, kaum hat er sich an einen gewöhnt, ergreift er schon wieder die Flucht. Der Grund: Er glaubt, dass ihn sein Vater, als er noch ein Kind war, einen kostbaren Edelstein verschlucken ließ. Jetzt fürchtet er, dass jemand dahinter kommt und ihn aufschlitzt. Und weil er das, was er tut, eigentlich hasst, untersucht er jeden Morgen seinen Stuhl nach dem Stein, der ihm endlich ein schönes Leben mit einer großer Wohnung und vielen schicken Freunden ermöglicht.

„Wie Nalda sagt“ ist ein Buch, das am Anfang etwas nervt, wegen seiner penetrant naiven Erzählperspektive. Aber plötzlich saugt es einen an und man kann es gar nicht mehr aus der Hand legen. Das liegt weniger daran, dass man wissen will, was mit diesem unglücklichen Helden passieren mag – man ahnt es ja schon. Vielmehr entsteht der Charme dieses Buches durch einen einfachen Trick. Es spielt mit der Frage, was passiert, wenn man schlappe Lebensweisheiten – von wegen innerer Kern, große Liebe usw. – in neue, glitzernde Metaphern packt, und was als Nächstes passiert, wenn sich diese verselbstständigen. Stuart David hat es sich so gedacht: Tante Nalda wird verrückt, bevor sie ihrem Neffen erklären kann, dass das, was sie ihm erzählt hat, nicht so gemeint war. Unser Held aber bleibt da stehen, wo jeder von uns mal stand, und nimmt alles, was ihm erzählt wurde, beim Wort.

Stuart David wurde 1970 in Glasgow geboren, wo er heute meistens noch wohnt. Er war Mitbegründer und Bassist bei der Band Belle & Sebastian, und außer dass in England bereits sein zweiter Roman erschienen ist, der im Musikbusiness spielt, macht er immer noch Musik mit seinem Projekt Looper, dessen dritte Platte gerade erschienen ist. Wenn man die Platten von Belle & Sebastian im Vergleich zu denen von Looper hört, so könnte man meinen, Stuart David habe sich die Figur der kindlichen Unschuld, in der sich jederzeit ein tiefes, tiefes Tal auftun kann, für seine Literatur aufgehoben. Damit er musikalisch erwachsen werden kann. Nur, dass Erwachsenwerden so ziemlich das Letzte ist. Wenn man zum Beispiel Lieder von Belle & Sebastian im Hinterkopf hat, wo zu arglosem Zuckerwattepop, der einen schier auf die Palme bringt, von Leuten die Rede ist, die mit 24 Jahren Schlaganfälle bekommen, aber Schwamm drüber, sie waren sowieso unausstehlich. Oder wenn man sich in Naldas Neffen verliebt hat, der in den Gesichtern der Menschen in den Cafés und in den Bussen sieht, „dass sie nicht da sind, wo sie sein wollen“.

SUSANNE MESSMER

Stuart David: „Wie Nalda sagt“. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 192 Seiten, 17,90 €