: Berge, Bänder und Beton
Marzahn ist ein Ort, den man nicht kennen muss, um ihn nicht zu mögen. Wer dächte denn auch, dass ein Spaziergang im Marzahner Gebirge und entlang der Wuhle all die schönen Vorurteile über den Haufen werfen könnte? Eine Enthüllung
von JAN ROSENKRANZ
Neukölln ist ja schon schlimm. Aber gegen Marzahn ist es nichts. Möchte man nicht wohnen da. Möchte man nicht mal tot überm Zaun hängen. Fährt man auch nicht einfach mal so hin. Wozu auch? Ist doch alles grau da. Grau in allen Tönen. Und überall Plattenbauten, die nicht schöner werden, nur weil die Wohnungsbaugesellschaft die Fassaden bunt gestrichen hat oder lustige Figuren auf die flachen Dächer stellt. Platte bleibt Platte bleibt grau. Fundamentalisten unter den Kritikern haben eben kein Auge für das grüne Marzahn – nicht für die Parks, nicht für den chinesischen Garten, für das Wuhletal nicht und auch nicht fürs dortige Gebirge. Marzahn hat ein Imageproblem.
Dagegen können auch die Ahrensfelder Berge nicht an. Aber man sollte sie alle mal hoch schicken, diese Ignoranten, auf die beiden kahlen Gipfel. Aus 112 Meter Höhe sieht nämlich alles halb so schlimm aus, werden große Probleme klein – selbst klobige Elfgeschosser oder unsanierte Mehrzweckkomplexe. Und dann sollen sie sich doch mal umschauen, sollen doch mal sehen, wie sich von Nordwesten kommend ein breites grünes Band durchs Wuhletal zieht.
Wie es beginnt mit einem künstlichen Kletterfelsen auf frisch gemähter Wiese, wie es bis an den Fuß der Ahrensfelder Berge reicht, sich weiter erstreckt in Richtung Südosten, immer die Wuhle entlang – oder dem, was davon übrig blieb. Seit damals, als man die Rieselfelder schloss und in Falkenberg das Klärwerk eröffnete. Als man die alte Wuhle in einen kanalisierten Ableiter zwang, auf dass sie schön gerade die Schmelzwasser-Rinnen aus Eiszeit-Zeiten hinabfließe, immer entlang des Gebirges, bis sie noch einmal Schwung holt am „Berliner Balkon“, wo die Grundmoräne endet, um dann durchs nördliche Berliner Urstromtal zu dümpeln und bei Köpenick in die Spree zu münden.
Grenzfluß Wuhle – liegt da zwischen Marzahn und dem noch neueren Hellersdorf, wie eine trotzige Schneise, wie zufällig übrig geblieben – damals, als sie hier buddelten und klotzten und zu tausenden herzogen. Natürlich hat Erich Honnecker an allem Schuld, könnte man den Kritikern sagen.
Er hat auf dem VIII. Parteitag der SED die Parole ausgegeben, die „Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990“ zu lösen. Er hat 1975 den ersten Spatenstich getan, auf dass gegraben und gebaut und zwei Jahre später die erste Wohnung übergeben würde. Und von da an, statistisch gesehen, alle anderthalb Stunden die nächste fertig wurde – zehn Jahre ging das so. Quadratisch, praktisch, grau. Immer weiter. Bis schließlich über 170.000 Menschen in Marzahn wohnten und aus diesem Dorf im Osten Berlins das größte Neubaugebiet der DDR geworden war, das sich selbst aus 112 Meter Höhe nicht überblicken lässt. Und so gesehen hat Erich Honnecker auch Schuld an diesem Berg, der doch erst dank der Bauarbeiten so hoch gewachsen ist – unten grün, oben kahl und sogar ein bisschen gefährlich.
Immer wieder spült der Regen Rinnen in die steilen Hänge und legt den Schutt frei. Sogar Schlacke aus der Müllverbrennungsanlage an der Rhinstraße soll hier endgelagert worden sein. Als hätte es nicht gereicht, dass die Russen die Hügel in der Nachkriegszeit eine Weile als Munitionssprengplatz genutzt haben. Armer Berg, wirst nie zur Ruhe kommen.
Eigentlich sollte auf seinem Rücken längst ein Park entstanden sein. Doch der Senat hat den Landschaftsplan XXI-L-4 auf Eis gelegt. Denn die Anhöhe ist noch zu jung, muss sich weiter setzen, drückt noch in die Breite, ja soll in die Fundamente der gefährlich dicht an den Hang gebauten Schule sogar Risse gesprengt haben, erzählt man sich in Marzahn. Deshalb durfte lange Zeit niemand den Berg betreten, stand ringsherum ein Maschendrahtzaun. Doch der bekam immer wieder neue Löcher, durch die die Leute kletterten, um da oben Drachen fliegen zu lassen, zu joggen oder illegal Müll zu entsorgen. Irgendwann war der Zaun dann weg und jeder durfte ganz legal die Aussicht auf die rekonstruierte Windmühle genießen, die zwischen all den hohen Blöcken steht, gleich neben den roten Dächern von Alt-Marzahn. Von Beton umzingelt wie das gallische Dorf, würden die Marzahn-Hasser sagen.
Die meisten aber zogen gern hierher damals, könnte man dann den Nörglern erwidern. Wollten nicht länger in modrigen Altbaubuden hausen, in die niemand auch nur einen Pfennig investierte. Wollten Zentralheizung statt Ofen, elfter Stock statt zweiter Hinterhof. „Beheizte Fickzellen“ hat Dichter Heiner Müller die Vollkomfortwohnungen genannt. Auch er mochte Marzahn nicht besonders.
Selbst die Architekten waren nicht stolz auf diese Betonwüste, die man in den ersten Jahre nur in Gummistiefeln begehen konnte. Aber sind die Architekten nicht die Huren des Bauherrn? Wer es billig will, bekommt es billig. Warum sollte das damals anders gewesen sein als heute?, könnte man die Kritiker fragen und sie daran erinnern, dass man ihnen eigentlich Marzahns Grün zeigen wollte und natürlich sein Gebirge. Dann nimmt man sie bei der Hand, führt sie die Schotterpiste hinab, auf der sich früher die Kipper hochschleppten, führt hinein in das grüne Band, vorbei am Autoübungsplatz und am chinesichen Garten und hinauf zum Kienberg. Und dann werden sie sehen, wie fleißige Bauarbeiter mit Schaufeln und Baggern für den Naturpark Kienberg Wege anlegen und Sichtschneisen in den dichten Bergwald schlagen.
Und während es auf der anderen Seite hinabgeht, zu den sumpfigen Pfuhlen mit Schilfgurt und vitaler Frosch- und Molchpopulation, werden die Abgeneigten vielleicht schon nachdenklich. Hier lässt sich’s leben – wenn schon nicht droben in den Häusern, so doch wenigstens drunten im Wuhletal. Das finden nicht nur Rehe und Hasen. Auch Zwergtaucher, Rohrweihen, Wachtelkönige, Schlag- und Feldwirle, Beutelmeisen, Neuntöter, Drossel-, Teich- und Sumpfrohrsänger haben hier ihre Nester gebaut.
Und sollte noch jemand an der Berghaftigkeit des Marzahner Gebirges zweifeln: Gebirgsstelzen haben die Ornithologen hier auch schon gesichtet. Dann staunen die Zweifler und der Mund steht ihnen offen, wenn wir weiter entlang des Flüsschens spazieren und sich das Wuhletal langsam zu einer Aue öffnet, dort, wo auch der Park des Griesinger Krankenhauses liegt.
Hinter dem Bahnhof Wuhletal geht es dann wieder steil bergan über sandige Wege – raus aus dem Tal und rauf auf die Biesdorfer Höhe, den dritten Berg im Bunde. Und während man dann auf dem Gipfelplateau pausiert und die Kritiker noch nach dem steilen Anstieg schnaufen, könnte man erzählen, dass auch dieser Berg künstlich gewachsen ist von 45,8 Meter auf satte 82. Weil hier der Schutt von den Bauarbeiten an der einstigen Stalinallee gelandet ist. Auch, so erzählt man sich jedenfalls, weil hier die Reste des gesprengten Stadtschlosses vergraben wurden. Dann hat man genug erzählt, lässt sich nieder auf der Bank aus Holzstämmen und schaut genüsslich zu, wie die endlich Überzeugten auf die Knie fallen und beginnen, mit bloßen Händen den Berg aufzureißen – wie Schliemann einst in Pergamon.
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