Symbolische Frontlinien

Frankreich driftet auseinander: Konservative Politiker suchen darauf im Kunstkanon eine Antwort. Derweil schließen sich engagierte Künstler lieber zu freien Gruppen und Initiativen zusammen

Gruppen, die in den Suburbs arbeiten, lehnen die offizielle Kulturpolitik ab

von JENS EMIL SENNEWALD

Der Kampf um Integration und Respekt in der multikulturellen Gesellschaft, schrieb der rechtsliberale UDF-Abgeordnete Henri Pagnol kürzlich in der Libération, werde nur zu gewinnen sein, wenn Schulkinder mehr zu „Meisterwerken“ hingeführt würden. Die Beispiele für bedeutende französische Kunst, die Pagnol dabei aufführte, reichten von der Renaissance bis zu den Kubisten: Als gäbe es in der zeitgenössischen französischen Kunst nichts Bedeutendes; als führe die Betrachtung von kanonisierten Kunstwerken zu republikanischem Bürgerbewusstsein.

Dass dem nicht so ist, wurde vom Ministerium für Kultur und Kommunikation eigentlich schon 1999 erkannt. In einem Dossier zum Thema „Kulturen und die Stadt“ wurde eine „symbolische Frontlinie“ ausgemacht, welche die Integration der Gesellschaft der Banlieues, der armen Vororte von Paris, behindere. Die Ethnologin Virginie Milliot-Belmadani zitierte eine Stimme, die die Abneigung der Vorort-Bewohner gegen staatliche Kunstmissionen deutlich machte: „Sie wollen uns die ‚gute Kultur‘ beibringen, aber die brauchen wir nicht. Wir sind keine Menschen ohne Kultur.“

Wenn Pagnol heute dennoch auf verordnete Kunst zurückgreift, zeigt das die Kluft zwischen staatlichem Entwurf und Realität. Wie ein beliebig einsetzbares Maschinenteilchen, das wohl gepflegt für das Funktionieren eines Apparates namens „exception culturelle“ zuständig ist, wird die Kunst herbeigerufen. Und es rufen nicht nur Politiker der gemäßigten Rechten. Die neulinke Szenezeitschrift Nova, die dem angeblich erwachten politischen Bewusstsein von Frankreichs Jugend eine ganze Nummer gewidmet hat, fragt ebenfalls in großen Lettern: „Wo sind die engagierten Künstler?“

Als Antwort präsentiert man die Gruppe „0 %“, Nichtwähler aus der Kunstszene, die sich kurz nach dem Wahlerfolg Le Pens, gerade auf dem Heimweg von der Turiner Kunstbiennale, zur Aktion entschlossen. Ergebnis ist eine Homepage, die vor allem aus der Erklärung besteht, sich nicht aus dem politischen Leben zurückgezogen zu haben: http://www.zeropourcent.org. Das war’s? Gibt es tatsächlich keine subversive künstlerische Praxis in Frankreich, die beispielsweise mit der gerade auf der documenta erfolgreich präsentierten Hamburger Gruppe „Parc Fiction“ vergleichbar wäre?

„Wir sind für Globalisierung, aber nicht für „ihre“ Globalisierung“ – trotzig wehrt sich die Initiative „Ne pas plier“ in Ivry-sur-Seine, einem Vorort von Paris, mit grafisch-künstlerischen Aktionen gegen neoliberale Zukunftsentwürfe. Gegründet wurde sie schon 1991 von Gérard Paris-Clavel, Grafiker und Aktivist. „Kunst“, sagt er, „gibt es nicht. Es gibt nur künstlerische Praxis. Und die ist immer politisch, denn sie bedeutet, etwas mitzuteilen, etwas von sich zu geben.“ Paris-Clavel ist ein Veteran im engagierten Grafikdesign. Er geht auf die Straße, arbeitet mit den von der Misere Betroffenen zusammen. „Nach einer Aktion in Barcelona, die ich zusammen mit so genannten ‚Sans Papiers‘ gemacht habe, sagten diese Menschen zu mir, dass sie sich zum ersten Mal als Teil der Gesellschaft gefühlt hätten. Dass sie sich sichtbar gemacht hätten. Darauf kommt es doch an in der künstlerischen Praxis: auf Darstellung, auf die Veränderung von Wahrnehmung!“

Von vielen engagierten KünstlerInnen wird die offizielle Kulturpolitik in Paris eher abgelehnt. „Das Palais de Tokyo in einem so schicken Viertel einzurichten“, meint Claude Lévêque, der gerade im Vorort Noisy-le-Sec eine interaktive Arbeit installiert hat, „war ein Fehler. Besser wäre es in den wenig bedachten Vierteln im Osten oder in der Banlieue aufgehoben.“ Im „Yuppie-Palast“, so ist auch von anderen Seiten zu hören, verschwinden die gesellschaftlichen Randgruppen, um die es auch dort in vielen Arbeiten geht, im Frieden der Kunstschau.

Diesen Frieden will Nicolas Roméas stören. Ähnlich wie Paris-Clavel versucht er mit seiner Gruppe „horschamps“, „außerhalb des Feldes“, und der Zeitschrift Cassandre, das Gefälle zwischen staatlich geförderter „exception culturelle“ und den Menschen, die Kultur leben, aufzuheben. Was teils nach sozialistischem Realismus von vorgestern klingt, wird in der Praxis zur Aktion der Stunde. Unter dem Titel „Kunst ist politisch“ wurde mit der eigens gegründeten Debattengruppe „Reflex(e)“ gerade ein dreitägiger Workshop in Montreuil bei Paris veranstaltet. Aus den zornigen Beiträgen der etwa hundert Kulturschaffenden war vor allem der Wunsch nach Orientierung herauszuhören – und nach dem Halt der Gruppe.

Der deutlichste Zug der aktuellen jungen Kunst ist die Tendenz zum Zusammenschluss. Immer häufiger wird mit politischen Aktionsgruppen kooperiert, wie den Hacktivisten von „Samizdat“, um sich sowohl gegen politisch-repräsentative wie kommerzielle Verwertungszusammenhänge von Kunst zu richten. So gründete beispielsweise Antoine Moreau vor zwei Jahren in Paris die Initiative „copyleft attitude“. Er will die freie Distribution von Kunst und künstlerischer Arbeit nach einer Art Tauschprinzip fördern. Mit großem Pathos sieht Moreau in „copyleft“ eine Renaissance des freien Künstlertums gegen den Liberalismus.

Was manchem zu sehr nach Indienstnahme der Kunst durch das Kollektiv klingen mag, bewirkt an der „Frontlinie des Symbolischen“ zuerst einmal die Bildung von Selbstbewusstsein. Gruppenbildung ist den KünstlerInnen Mittel zum Zweck. Man sucht Differenz, übt Machtkritik und pocht auf Singularität. Der gesellschaftliche Entwurf, der sich hier und da abzeichnet, zielt auf Eigenständigkeit und eine Selbstverantwortung, die auf den Anderen, sozial Schwächeren gerichtet ist. Gemeinsam ist den höchst diversen Ansätzen der Wille zum „Se partager“ – zum „Sich (mit-)teilen“. Für eine französische Leitkultur wird sich das schwerlich instrumentalisieren lassen.