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„Hanebüchen“

Bundesweiter Fachverband für Erziehungshilfe kritisiert geschlossene Heime und befürchtet Eskalationsspirale für die gesamte Jugendhilfe

Dass Jugendhilfe derart unverhohlen zur Ordnungspolitik eingesetzt wird, hat es so noch nicht gegeben

Interview KAIJA KUTTER

taz: Warum nimmt die IgfH aus Frankfurt kritisch Stellung zur Hamburger Jugendpolitik?

Wolfgang Trede: Weil die Schaffung eines geschlossenen Heims mit 90 Plätzen von bundespolitischer Bedeutung ist. Dass Jugendhilfe derart unverhohlen zur Ordnungspolitik eingesetzt wird, hat es so noch nicht gegeben. Bundesweit gibt es nur 140 Plätze. Wenn Hamburg da 90 zusätzliche Plätze schafft, kommt da was ins Rutschen. Jugendhilfe hat die Aufgabe, Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern. Sie hat nicht die Aufgabe der Justiz.

Ist diese Ablehnung in Fachkreisen einheitlich?

Alle Fachverbände haben sich grundsätzlich dagegen ausgesprochen, vor allem gegen neue Einrichtungen. Es gibt aber eine differenzierte Fachdebatte. Ich kann nicht ausschließen, dass Freiheitsentzug in individuellen Fällen aus pädagogischen Gründen sinnvoll ist. Zum Beispiel bei Gefahr für Leib und Leben. Dies kann aber nur von kurzer Dauer sein und nicht so, wie es in Hamburg vorbereitet wird. Dort will man Kinder unter 14, die kriminell wurden, in einer Gruppe zusammenschließen. Das ist hanebüchen.

Manche sagen, mit der geschlossenen Unterbringung könne man Jugendlichen helfen ?

Auszuschließen ist das nicht. Es zeigen aber die Erfahrungen, dass die Mauern pädagogische Beziehungen eher verhindern. Das besagt die Studie von Sabine Pankofer von 1997, die mehrere Jahre in Gauting bei München in einem geschlossenen Heim für Mädchen gearbeitet hat. Unterm Strich entstehen die für die Mädchen förderlichen Prozesse eher trotz der Geschlossenheit und nicht deswegen.

Wieso hindern Mauern die Beziehung zu Pädagogen?

Weil es sich um einen Zwangskontext handelt. Das behindert vertrauensvolle Beziehungen. Deshalb sind die Erfolgsquoten alles andere als groß. Der Prozentsatz ehemaliger Heimkinder, die ihre Zeit dort rückwirkend als hilfreich bewerten, ist in geschlossenen Einrichtungen sehr viel geringer als in offenen, wo die Beziehungen freiwillig sind und auch ausgetestet werden können. Eine große Untersuchung des Deutschen Jugendins-tituts hat übrigens bestätigt, dass die Weglaufquoten in geschlossenen Heimen genauso groß sind wie in offenen.

Wie ist das möglich?

Das liegt daran, dass dort – Gott sei dank – Pädagogen arbeiten. Ein Heim ist kein Knast. Es ist ein Irrtum, man könnte die Gesellschaft mit geschlossenen Heimen vor den Kindern schützen.

Worin liegt der Schaden der geschlossenen Heime?

Für die Jugendlichen ist der offenkundig. Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft. Da muss Freiheitsentzug besonders begründet werden. Und wenn man anders helfen kann, muss man das auch. Aber es gibt darüber hinaus eine Auswirkung auf die gesamte Jugendhilfe. Wir kommen wieder in eine verhängnisvolle Eskalationsspirale rein. Pädagogen haben ein Drohpotential: bist du nicht willig, dann kommst du in die Feuerbergstraße. Einrichtungen werden wieder Jugendliche ausgrenzen. Ein Erzieher ist in Urlaub, ein Jugendlicher knallt durch und schon heißt es, der ist nicht mehr tragbar.

Hat die Jugendhilfe Fehler gemacht?

Ich denke schon, dass es ein Fehler war, geschlossene Unterbringung für die wenigen Einzelfälle, wo sie vielleicht notwendig war, auszuschließen. Das hat manchmal dazu geführt, dass Kinder in der Jugendpsychiatrie gelandet sind, obwohl sie dort nicht hingehören. Aber unser Hauptproblem liegt in der zu hohen Spezialisierung. Die führt dazu, dass Einrichtungen gerne unliebsame Jugendliche abschieben, statt sie zu halten. Es gibt Einrichtungen, die Listen haben, wie Kurkliniken, in denen sie präzise definieren, für welche Klientel sie zuständig sind.

Gibt es Bundesländer, die positive Erfahrungen mit geschlossenen Heimen haben?

Die Länder, die sie haben, sagen natürlich, sie brauchen sie. Aber das ist wenig glaubhaft. Die Rekonstruktion von Einweisungsgründen ergibt ein absolut heterogenes Bild. Es war schon in den 70ern absolut zufällig, ob jemand in ein geschlossenes Heim kam oder nicht. Die neueren Studien von Pankofer und dem Deutschen Jugendinstitut belegen, dass das heute noch so ist. Dabei gibt es den Skandal am Rande, dass Mädchen viel schneller in geschlossene Unterbringung kommen als Jungen. Sie werden zum Teil aus vergleichsweise undramatischen Anlässen eingewiesen, da spielen selbst noch Dinge wie Promiskuität eine Rolle.

Man möchte sie schützen.

Klar, wenn ich so ein Mädchen am Bahnhof stehen sehe, kommt bei mir auch der Rettungsimpuls. Aber sie einzusperren bringt nichts. Es helfen nur niedrigschwellige Angebote, wo es möglich wird, zu den Kindern eine Beziehung aufzubauen, wie es sie mit dem KIDS am Hamburger Hauptbahnhof bereits gibt. Im geschlossenen Heim laufen die Kinder wieder weg.

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