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Surrealistisches Attentat auf das WTC

Schriften zu Zeitschriften: „Die Aktion“, Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst, dokumentiert einen französischen Streit über André Breton und den Surrealismus. Ist die Bewegung Urheber des 11. Septembers, wie Jean Clair behauptet?

Jean Clair ist als Direktor des Musée Picasso in Paris zweifellos ein Kenner der Kunst des 20. Jahrhunderts. Doch nach den Anschlägen in New York und Washington tat er so, als sei sein Wissen um die Avantgarde des 20. Jahrhunderts genauso eindimensional wie das des Komponisten Karlheinz Stockhausen. Der, wir erinnern uns, hatte den Anschlag auf das New Yorker World Trade Center als die konkurrenzlose Erfüllung aller modernen Künstlerträume gefeiert: „ … das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat“. Über die ästhetische Qualität des Anschlags ließ sich Jean Clair zwar nicht aus, doch auch er sah bei den Attentätern Künstler am Werk; zumindest späte Anhänger des Surrealismus.

In der Beilage „Guerre éclair, doute persistant“ (Blitzkrieg und anhaltender Zweifel), die Le Monde am 22. November 2001 publizierte, bezichtigte er in seinem Artikel „Der Surrealismus und die moralische Zersetzung des Abendlands“ André Breton und seine Mitstreiter, sich schon 1925 gewissermaßen an die Steuerknüppel der Terrorflugzeuge gesetzt zu haben, die endlich 2001 in die Twin Towers in Manhattan stürzten. Denn unausgesetzt hätten sie sich den Untergang eines „materialistischen und sterilen Amerika und den Sieg eines Morgenlandes gewünscht“, das Bewahrer der geistigen Werte sei. Besonders infam – als Strategie, dem Gegner endgültig den Todesstoß zu versetzen, aber bewährt – war Clairs Bezichtigung des Surrealismus als antisemitisch.

Natürlich blieb dieser luftige Angriff aufgrund eines geistigen Höhenflugs, dem sehr unterschiedliches Terrain zu einer einzigen platten Ebene geriet, nicht unerwidert. Alte und neue Surrealisten, also Leute, die Breton noch kannten, aber auch 30-Jährige, die sich wie der Philosoph Pablo Durán noch immer der Bewegung verpflichtet fühlen, widerlegten die grob fahrlässigen Unterstellungen. Immerhin waren es die Surrealisten gewesen, die 1933 mit Romain Rolland, André Gide und Henri Lefebvre gegen „das Judenpogrom und den Rückfall in den Antisemitismus des Mittelalters und … den Terror in Deutschland“ (Flugblatt „Protestez!“) öffentlich Einspruch erhoben hatten. Und schon 1936 hatte André Breton die Moskauer Schauprozesse scharf kritisiert und dem Amerikaner John Dewey, der die internationale Untersuchungskomission leitete, seine Unterstützung angeboten. Dem kurzen Engagement Bretons „mit dem Stalinismus“ hatte der Direktor des Musée Picasso (der Künstler trat pikanterweise 1944 der KPF bei) nämlich ausgerechnet die Haltung Heideggers entgegengehalten, der schon 1933 dem Nationalsozialismus den Rücken gekehrt habe.

Pünktlich zur Übernahme der von Werner Spies kuratierten Surrealismus-Ausstellung des Centre Pompidou nach Düsseldorf werden nun dieser in Deutschland kaum wahrgenommene Streit sowie die sehr kritische Besprechung der Ausstellung, in der die Surrealismusspezialistin Annie Le Brun den Versuch einer Entpolitisierung sieht, in der zweiten Lieferung 2002 der Aktion dokumentiert. Die von Lutz Schulenburg seit 1982 herausgegebene politisch-literarische Zeitschrift, die in ihrem Titel an die von Franz Pfemfert zwischen 1911 und 1932 herausgegebene Zeitschrift gleichen Namens anknüpft, ist einem linken anarchistischen und situationistischen Denken verpflichtet.

Jean Clairs bizarre Ansichten zur Kunst des 20. Jahrhunderts sind allerdings durch sein 1998 bei Dumont erschienenes Buch „Die Verantwortung des Künstlers. Avantgarde zwischen Terror und Vernunft“ auch in Deutschland bekannt. Schon damals sah er Bauhaus und deutschen Expressionismus den Nazis zuarbeiten. So Amerika-freundlich, wie er sich im November 2001 gab, war er freilich 1998 nicht. Der Abstract Expressionism, so Clair, war die „amerikanische Kolonialisierung der Welt“, und auch Concept und Minimal Art dienten ebenfalls nur „der Tyrannei der amerikanischen Panoptik“. BRIGITTE WERNEBURG

„Die Aktion“. Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst. Heft 204, 2. Lieferung 2002, Edition Nautilus, 6 €

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