: Schlüssel zum Leben
Für die Frauen in der Notkestraße bietet das eigene Apartment nach Jahrzehnten der Wohnungslosgkeit ganz ungewohnte Freiheiten
von SANDRA WILSDORF
An den Schlüssel musste sie sich erst gewöhnen. Jetzt hängt er an einer dicken gelben Kordel, immer direkt neben der Tür. Damit sie sich nicht wieder aussperrt. Denn dass Klara Siegert eine Wohnung hat, die sie abschließen kann, ist etwas Neues. 16 Jahre hat die 75-Jährige in der Wohnunterkunft von pflegen & wohnen in Bahrenfeld gelebt. Gemeinsam mit anderen obdachlosen Frauen, die dort ein Bett für eine Nacht oder ein Zimmer für Tage oder Wochen fanden, aus denen manchmal Jahre wurden.
Nächtlicher Kaffee
Noch im vergangenen Jahr waren auf dem Gelände 130 Frauen in Einzel-, Doppel- und Mehrbettzimmern untergebracht. Inzwischen ist eines der drei Häuser bereits komplett umgebaut: 24 Frauen leben hier in ihrem eigenen 1 1/2-Zimmer-Apartment mit Küche, Balkon und eigenem Mietvertrag. Klara Siegert ist eine von ihnen. „Man lebt richtig auf, es ist sehr, sehr schön“, sagt sie. Endlich kann sie Besucher wie den Schwiegersohn empfangen, sie kann sich nachts um eins Kaffee kochen, „und wenn ich allein sein will, einfach die Tür nicht aufmachen.“ Und sie hat Platz für ihre Teddys. In allen Größen sitzen sie auf ihrem Sofa, „die habe ich alle geschenkt gekriegt.“ Genauso wie die drei Wecker, die nebeneinander auf dem Tisch stehen, „dabei wache ich jeden Morgen um 6 Uhr auf.“
Wer so in Not war, wie Klara Siegert und die anderen Frauen in der Notkestraße, der kann nichts liegenlassen, „ich nehm alles mit, was ich finde“, sagt auch Renate Elvers und zeigt auf das Barbiepferd, das sie auf der Straße gefunden hat. Es steht auf einem Bügelbrett, neben einer riesigen Stofftier-Familie. In der Ecke vor dem Waschbecken steht ein Teewagen mit ihren Vorräten: Champignons und Paprika im Glas, Dosen, Kaffee. Und im ganzen Zimmer verteilt stehen Seidenblumensträuße, „die sammel ich seit zehn Jahren“, sagt die 50-Jährige. Und: „Wenn ich mal heirate, brauche ich keine Blumen mehr.“ Sie war schon mal verheiratet, der Mann hat Schulden gemacht. Das ist Teil der Geschichte, die sie hierher gebracht hat, vor vielen Jahren. Sie feudelt ihr Zimmer und den Flur, „ich kann nicht den ganzen Tag auf dem Hintern sitzen“. Sie würde gern arbeiten. Aber das Arbeitsamt hat nichts für die gelernte Friseurin. Im Moment schneidet sie nur sich selbst die Haare. Im November soll auch das zweite Haus fertig umgebaut sein, dann bekommt auch Renate Elvers eine eigene Wohnung.
Wo sie jetzt wohnt, bleiben die Einzel- und Doppelzimmer erhalten. Obdachlose Frauen sollen hier maximal ein Jahr unterschlüpfen können, um von hier aus eine neue Wohnung suchen zu können. Doch einige werden länger bleiben, denn nicht jede der Frauen ist der Lage, sich allein zu versorgen. Einige fürchten die Einsamkeit der abgeschlossenen Wohnung, für andere gehört sie zu einem Leben von früher, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollen. Jede der Frauen hat einen Bruch in ihrem Leben, viele von ihnen sind psychisch krank. Sie fühlen sich verfolgt oder leben in einer ganz eigenen, inneren Welt.
Der erste Geburtstag
Aber sie passen auch aufeinander auf, „hier stirbt niemand, ohne dass es jemand merkt“, sagt Sozialarbeiterin Cornelia Finck. Taucht eine Frau zwei Tage lang nicht in der Gemeinschaftsküche, in den Toiletten oder auf dem Flur auf, „gehen wir nachsehen“. Mit der neuen Wohnsituation wird das schwieriger. „Denn wir können nicht einfach in die Wohnungen gehen“, sagt Einrichtungsleiterin Petra Prüser. Aber das sei nur ein kleines Problem an einer „tollen Sache“. Durch die eigenen Räume hätte sich die Lage in der Notkestraße sehr entspannt. Die eigene Wohnung gebe den Frauen Ruhe und Rückzugsmöglichkeit und trotzdem hätten sie Hilfe und Betreuung, wenn nötig. Die Wohnung gibt ihnen ein selbstständiges Leben zurück. Mit all‘ seinen Selbstverständlichkeiten. Neulich hat hier eine 62-Jährige zum ersten Mal zu ihrem Geburtstag eingeladen. In der ersten eigenen Wohnung.
Die Frauen in der Notkestraße freuen sich über Kleider- und Möbelspenden. Infos: ☎ 897 097 91
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