MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON GERRIT BARTELS
: Rock

Navid Kermani: „Das Buch der von Neil Young Getöteten“. Amman Verlag, Zürich 2002, 176 S., 16 €

Was tun bei regelmäßig auftretenden Blähungen von Neugeborenen, der so genannten Drei-Monats-Kolik? Viele junge Eltern dürften auf diese Frage keine befriedigende Antwort bekommen. Sicher würden sie ihren Kinderarzt sofort wechseln, wenn dieser den Rat gäbe: Versuchen Sie es doch mal mit Neil Young! Dass ein solcher Versuch es wert wäre, kann man einem Buch des jungen Islamwissenschaftlers und Neil-Young-Fans Navid Kermani entnehmen, das den wuchtigen Titel „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ trägt.

Kermani hat an einem unruhigen Abend voller Geschrei die Idee, seinem leidgeplagten Töchterchen Musik von Neil Young vorzuspielen. Tatsächlich beginnt diese, sich in seinen Armen zu entspannen und einzuschlafen. Nachfolgend ist es ausschließlich Neil Young, der die Kleine zu beruhigen vermag, was sich Kermani mit dessen hohen Stimmfrequenzen erklärt.

Diese Leidenszeit mit der Tochter auf dem Arm und die Erfahrung mit Young als Musiktherapeut hat Kermani als Klammer für sein Buch über Young verwendet. Unorthodox, aber eindrücklich nähert er sich seinem Helden, indem er das Leiden seiner Tochter mit den Lieblingsissues von Young gleichsetzt: die Vertreibung aus dem Paradies, der unerschüttliche Glaube an ein besseres Leben, irgendwann, irgendwo. Kermani betreibt intensive Songstudien von „Last Exit To Tulsa“ über „Pocahontas“ bis zu „Down By The River“ und er streut gern auch Gleichnisse aus der islamischen Mystik in seinen Text. Ihm geht es mit Neil Young um alles: um Leben und Tod, ums Werden und Vergehen, um das Heidegger’sche und Adornitische, um Bettler und Prinzen. Das ist pathetisch, gerade aber bei Young, diesem getriebenen Nostalgiker und geborenen Pathetiker, der vielleicht beste Zugang. Natürlich hat Kermani auch Mitteilungsdrang, erzählt er von großen Brüdern, ersten Freundinnen und nächtlichen Autofahrten. Doch die eigenen biografischen Wegmarken dienen ihm allein dazu, Neil Young auf die Schliche zu kommen: seiner Musik, seinen Widersprüchlichkeiten und den produktiven Missverständnissen, die sein Leben begleiten. Zu Letzteren könnte eines Tages auch gehören, dass das „Buch der von Neil Young Getöteten“ in den Regalen der Ratgeberliteratur für junge Eltern einen festen Platz einnimmt.

Posthouse

Irvine Welsh: „Klebstoff“. Deutsch von Clara Drechsler und Harald Hellmann. KiWi 2002, 624 S., 12,90 €

Rezession auch im Mutterland der Clubkultur: Das Lifestyle-Magazin The Face orakelt, dass britische Kids lieber in den Alpen wandern oder sich in Florenz die Uffizien anschauen als nach Ibiza zum Raven zu jetten, und in englischen Städten schließen viele Clubs aus Mangel an Publikum. Dazu passt, dass die Veröffentlichung des neuen Irvine-Welsh-Romans merkwürdig ruhig über die Bühne geht. Kein Aufschrei der Empörung wie noch bei „Drecksau“, seinem letzten Buch; keine multimediale Dauerrotation wie bei seinem Debüt „Trainspotting“ 1996; und auch keine jungen Kritiker, die in den Literaturredaktionen Schlange stehen, um den neuen Welsh besprechen zu können. Die Acid-House- und Chemical-Generation ist in die Jahre gekommen und kümmert sich inzwischen am liebsten um den Vorgarten ihrer Eltern.

Irvine Welsh aber ist das egal. Der schreibt immer noch so, als sei er auf Speed; der findet seine Figuren und Geschichten wie gehabt bei den Angehörigen des weißen Trash von Edinburgh; und der schreibt nach wie vor am liebsten über Sex, Drogen und Fußball. Allerdings sind seine literarischen Ansprüche durchaus gewachsen. Er riskiert einen zähen Beginn für seinen 624-Seiten-Schmöker „Klebstoff“ und steigt seinen vier Helden erst mal bis in die früheste Kindheit nach, um ihr weiteres Tun auch psychologisch zu motivieren: Väter und Söhne, Treueschwüre und Freundschaftsbünde. In Folge schildert er die durchaus zögerliche Entwicklung von Billy, Carl, Andrew und Terry von den Achtzigern über die Neunziger bis „so ungefähr 2000“. Während Billy als Clubbesitzer und Carl als DJ mit Weltrang ihrem alten Milieu entwachsen, muss Andrew in den Knast und stürzt nach seiner Entlassung vollständig ab. Und auch Terry bleibt sich treu, kassiert regelmäßig seine Stütze und entwickelt Ehrgeiz nur, wenn es um das Aufreißen von Frauen geht. Erst der Tod von Andrew führt sie alle wieder zusammen – in einem Finale, das sich über zwei Tage und eine Nacht erstreckt und ein Drittel des Buches ausmacht. Schön, wie rasant Welsh das erzählt und wie gezielt er seine tausend Erzählstränge auf ein Ereignis hin zu bündeln vermag. „Klebstoff“ ist besser als jede Vorabendsoap, fürchtet sich aber auch nicht vor dem rosarotesten Kitsch: Freundschaften sind fürs Leben, eine zweite Chance gibt es immer, und mit den Clubs, na, das wird doch auch bald wieder.

Pop

Giles Smith: „Lost in Music. Eine Pop-Odyssee“. Aus dem Englischen von Stefan Rohmig. Heyne Verlag München, 286 S., 12 €

Manchmal reichen allein Cover und Titel, um vor der Lektüre zu wissen, was in einem Buch drinsteht. Ein silberner Tonarm, ein schwarzer Plattenteller und da drüber die Worte: „Lost In Music“ – wenn das kein Buch ist, in dem ein junger Mann erzählt, wie er mit Musik aufgewachsen ist und diese sein Leben beeinflusst hat! Manchmal passiert es dann, dass man als Prophet zwar bestätigt wird, aber keine tieferen Erkennntnise über den Autor oder Helden gewinnt. Das ist bei Pop-Romanen meistens der Fall, so auch bei dem im Original schon 1995 in England erschienen „Lost In Music“ von Giles Smith. Immerhin hat der sich seinen Pop-Roman zumindest mit ehrlicher Arbeit verdient: Er spielte die Keyboards in einer Band namens Cleaners From Venus, die Ende der Achtziger zumindest Achtungserfolge bei einem Indiepublikum erzielen konnte. Der Werdegang von Cleaners From Venus und Smith’ Erfahrungen auf Tourneen und mit dem Musik-Business sind selbstredend Teil des Buches. Allerdings nur ein kleiner, da Smith in seinem Buch wirklich alle Seiten seiner Beziehung zu Popmusik ausleuchten will: die ersten Platten, die ersten Schwärmereien, die ersten Gehversuche in Bands, das Sammeln von Schallplatten, der Siegeszug der CD, die Wahl der richtigen Anlage. Der Wille zur Vollständigkeit ehrt Smith, weil er auch um peinliche Verfehlungen keinen Bogen macht und seine Biografie, wie bei Pop-Romanciers üblich, an keiner Stelle schöner färbt, als sie war – auch Nik Kershaw, 10 CC oder Supertramp fehlen nicht. Doch schnell ist man ermüdet und langweilt sich. Immer nur Popmusik und Weisheiten wie „Die Charts sind dazu gemacht, dass sie voller Scheiße sind“ halten nicht bei Laune. Schon gar nicht lassen sie Raum für den jungen Mann hinter dem ganzen Pop, für seinen Charakter, für seine Entwicklung jenseits seiner Begeisterung für Marc Bolan oder XTC. Wer ist Giles Smith? Nicht mehr als ein Popvollidiot, der dann auch noch Musikjournalist wird? Nur eines lässt sich nach der Lektüre von „Lost In Music“ sicher sagen: Rock ’n’ Roll hat diesem Leben keinen neuen Sinn gegeben.

Klassik

Paula Fox: „Lauras Schweigen“. Aus dem Englischen von Susanne Röckel. C. H. Beck, München 2002, 234 S., 18,50 €

Es gehört zu den hervorstechendsten Merkmalen der Figuren von Paula Fox, dass sie nicht wissen, was sie tun. Und nicht wissen, wer sie sind. So wie Annie in „Kalifornische Jahre“. Annie zieht einfach mal so von New York nach Kalifornien und hat höchstens eine Ahnung davon, dass sie mit ihrem Umzug „das Unverständnis ihrer selbst, das ihr Wesen ausmacht“, ergründen will. Oder wie Laura in Paula Fox’ jüngst wiederveröffentlichtem Roman „Lauras Schweigen“ aus dem Jahre 1976. Laura erfährt am Vorabend einer langen Reise vom Tod ihrer Mutter Alma, betrachtet diesen aber sozusagen als ihr Eigentum. Obwohl sie ihre Tochter Clara, einen ihrer Brüder und einen Freund zu einem Abschiedsessen bei sich und Ehemann Desmond zu Gast hat, erzählt sie keinem etwas von Almas Tod. Und auch Lauras Tochter Clara hat so manchen Kampf mit sich auszufechten und leidet gerade in der Gegenwart ihrer Mutter Laura an einer schweren „Erschütterung ihres Selbst“.

Es sind komplexe Charaktere, die Fox’ Romane bevölkern, unsichere, labile und rätselhafte Menschen. Ihr Sprechen und Handeln erschließt sich nie vollständig, es bleiben immer Leerstellen in der Geografie ihrer Psychen. Das aber macht den Reiz dieser Romane aus und hält sie auf sicherem Abstand zu dem Psychokitsch und der Selbsterfahrungsliteratur der Siebzigerjahre. Dazu kommt, dass es Paula Fox in „Lauras Schweigen“ bewundernswert elegant vermag, die Erzählperspektiven zu wechseln und übergangslos bewusst nichtssagende Dialoge neben erhellende innere Monologe zu stellen. Seine Kammerspielatmosphäre lässt den Roman zwar an manchen Stellen eine Idee zu hermetisch erscheinen und führt zunächst auch in die Irre: Man glaubt, im Vordergrund stehe die schwierige Tochter-Mutter-Beziehung zwischen Clara und Laura und eine mühsame Emanzipation. Nach und nach aber entwickelt Fox kühl und differenziert die Geschichte einer Immigrantenfamilie, deren unsichtbares Zentrum die verstorbene Alma bildet. Einmal reicht Fox ein Satz, den sie eher beiläufig eine ihrer Figuren sagen lässt, um den Schlüssel zu „Lauras Schweigen“ zu liefern: „Familien halten ihre Mitglieder im eisernen Griff von Definitionen. Man muss den Griff brechen, irgendwie.“

Erotik

Charles Simmons: „Das Venus-Spiel“. Deutsch von Jörg Trobitius. C. H. Beck, München 2002, 182 S., 18,90 €

Wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er ein Kind gezeugt, einen Baum gepflanzt und ein Haus gebaut hat? Charles Simmons würde sagen: Ein Mann ist nur ein Mann, wenn er zumindest einmal im Leben eine Potenzpille getestet hat. Und dann feststellt, dass die Natur sich nicht gern manipulieren lässt und die Liebe die beste chemische Verbindung im Leben eines Menschen ist.

Das jedenfalls legt der nach „Salzwasser“ und „Lebensfalten“ dritte hierzulande veröffentlichte Roman des 78-jährigen amerikanischen Schriftstellers nahe, der wie seine Kollegin Paula Fox erst im hohen Alter in den USA wieder- und in Deutschland neuentdeckt wird. In „Das Venus-Spiel“ erzählt Simmons die Geschichte eines jungen Mannes, der eines schönen Tages von seinem Arzt gefragt wird, ob er nicht an einer Versuchsreihe für ein neues Sexmedikament teilnehmen wolle. Ben will, klar, und schon am ersten Abend auf Venus macht sich sein Schwanz selbstständig: Ben lernt die schöne Cynthia kennen. Nach einigem Hin und Her, in dessen Verlauf Kobolde, Elfen, Bösewichter, Vogelmänner und so genannte Klitoris-Frauen auftreten, nimmt auch Cynthia am Venusspiel teil. Sie aber bestimmt die Regeln selbst, und die Verwicklungen nehmen ihren Lauf: Ben verschwindet, verzweifelt gesucht vom Venusteam, aber sicher und geborgen – in Cynthias Leib.

So ist das eben: Männner wollen Sex, Frauen wollen verschmelzen und gebären. Riecht nicht ganz taufrisch, was Simmons in seinem Sexmärchen durchspielt, da hilft weder der strukturierende Beat aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ noch Samples aus Filmen wie „Being John Malkovich“ oder Kathryn Bigelows „Strange Days“. Und da hilft auch der leichte, unangestrengte Ton nichts, den Simmons perfekt beherrscht und für den er bei seinen Vorgängern zu Recht gelobt wurde. Diese Leichtigkeit verflüchtigt sich hier in ein grobes Nichts, in dem Ben, Cynthia und das gesamte Venusspiel bequem verschwinden. Dass am Ende noch die schöne Göttin aus der Maschine den rechten Weg weist: Man hätte es fast nicht gedacht!