: Fahrtwind und Schokolade
Was macht den Sommer cool? Teil 7: Eine Reise von Berlin in eine andere Welt. Sie dauert nur zwei Stunden. Zwar friert es einen im Eisenbahnabteil, aber dafür verführt das Fremde am Ziel
von WALTRAUD SCHWAB
Von Dienstag bis Freitag Deutschland, am Wochenende Polen. Das Abteil ist voller Pendlerinnen. Sie putzen in Deutschland. Samstagmorgen sitzen sie im Zug von Berlin nach Stettin. In der Überwindung der Grenze sind sie mir weit voraus.
Dabei ist Polen von Berlin aus ganz nah. Stettin mit 420.000 Menschen die nächstgelegene Großstadt, direkt an der Oder. Im Regionalzug in zwei Stunden in einer anderen Welt.
Wie für eine solche Reise bestellt, hat sich eine Unverbesserliche einen Fensterplatz erobert. „Sind Sie deutscher Abstammung oder sind Sie Pole?“, fragt sie ihren Nebenmann. Er nickt, sie redet weiter. „Ich besuche mein Elternhaus bei Stettin. Das Katasteramt hat jetzt das Grundstück abgesteckt. Damals mussten wir mit dem Rucksack aus Pommern raus. Was heißt ‚Danke‘ auf Polnisch? ‚Dziękuję.‘ “
Morgens im Zug ist es kalt. Dazu die Klimaanlage, nackte Füße in Sandalen und die Müdigkeit der Pendlerinnen. Sie steckt an. Transit als Trägheit. Mir fallen die Augen zu und ich träume im Halbschlaf von jemandem, der zehn Möglichkeiten verpasst hat. Es muss mit den zehn Geboten zu tun haben, von denen die Ex-Pommerin spricht. „Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst Vater und Mutter ehren. Aber die jungen Frauen wissen gar nicht mehr, wer die Väter ihrer Kinder sind“, lamentiert sie. Im Traum löst sich das Unfassbare, indem der Protagonist eine elfte Möglichkeit erhält. Wofür?
Vom Geruch scharfer Knoblauchwurst bei Angermünde werde ich wach. Auch die beiden Polinnen gegenüber haben die Augen geöffnet. Vor den Fenstern ziehen die mit Rainfarn bewachsenen Gleise vorbei. Häuser stehen geduckt unter Bäumen. „Darf ich Sie fotografieren?“, frage ich die eine. Ihre blauen, müden Augen spiegeln sich im Fenster. Die Frau winkt ab. Kurz darauf die Grenze. Granica. Der Fahrtwind trägt Glockengeläut ins Abteil.
Dann der Bahnhof von Stettin. Szczecin Głowny. Das Aussteigen hinauszögern, weil das Unbekannte nur einmal neu ist: die Fußgängerbrücke über den Gleisen, die verwaschenen Schalensitze aus Plastik, die Werbung an der Hausfassade. Darauf hält ein Kind eine Packung fest, deren Markenname mir nichts sagt. Männer sprechen mich an. „Taxi“ ist am einfachsten zu verstehen. Ich habe kein Ziel. Nur einen Anfang. Die Bahnhofshalle am „Peron 1“. Dort gibt es Zusammenhänge, die sich erschließen: Schalter, Warteräume, eine Wechselstube. „Wie viel Złoty für vier Stunden Polen?“ frage ich die Frau an der Kasse. Ein Mann will helfen. „Wie viel Złoty für vier Stunden Stettin?“ – „Einen oder eine Million“, antwortet er.
Rechterhand immer die Oder im Blick auf dem Weg in die Altstadt. Über Pflasterstein, Treppen, überwuchertes Grün, aufgebrochene Trottoirs, quer über einen Kleidermarkt, am Busbahnhof vorbei. Das Aufeinandergeschichtete: Neubau über Altbau über Kirche über Werkstätten. Darüber zieht der Duft aus einer Schokoladenfabrik.
Ich will den Geschmack des Fremden als Brot kennen. Endlich ein Ziel: Bäckerei, „Piekarnia“. Dazu Kaffee. Aber an diesem Samstagmorgen wacht die Stadt nur langsam auf. Ich folge den Straßen, die zu Treppen werden und lande beim Schloss. Eine Hochzeitsgesellschaft wandert über den Platz. Brot finde ich nicht, wohl aber den Blumenmarkt dort, wo ich das Theater vermute. An der Kreuzung kaufe ich ein Pfund Pflaumen, kurz danach endlich eine Bäckerei. „Einen Kipfel.“ Er schmeckt nach Hostie. Ein Stück Hefekuchen gebe ich nach dem ersten Bissen der Bettlerin an der Ecke.
Briefkästen sind rot, Mülleimer blau, Plateauschuhe und verwaschene Jeans en vogue. Ich verstehe die roten Pfeile auf den Trottoirs nicht und auch nicht die Leichtigkeit, die über der Stadt liegt, als sie am frühen Nachmittag erwacht. Bei den Hakenterrassen, hingebaute Großzügigkeit am Oderufer, möchte ein Liebespaar fotografiert werden.
Unter den Terrassen im Hafen hat die „Uckermark“ angelegt, mit der ich zurückfahren will. Unter Deck feiert eine Firma aus Schwedt, 60 Kilometer südlich an der Oder in Brandenburg gelegen, ihr Betriebsfest. Oben in der Sonne macht Dieter Wunsch, der Kapitän, der in der DDR die Yacht der Nomenklatura steuerte, auf fehlende Kläranlagen, zerstörte Brücken und offene Polder auf polnischer Seite aufmerksam. „Ich bin kein Hemd, das man auszieht“, dröhnt ein Schlager über die Lautsprecher.
Vier Stunden dauert die Rückfahrt die Oder entlang. Mit Eierlaufen, Schattenboxen und Wettrasieren vertreiben sich die Feiernden die Zeit. Als Rasierschaum dient Sahne. Dazu „Küssen verboten“. Reiher und Kormoran hocken am Ufer. „Im Garten steht ein Ofenrohr und das ist heiß“, trägt einer der Festgäste oben auf Deck vor und beißt seiner Geliebten ins Ohr. Ein stiernackiger Kahlköpfiger dagegen wehrt die Zärtlichkeiten seiner Freundin ab. Die Kirche sei an allem schuld, erklärt ein Stuttgarter in kurzen Hosen, der ebenfalls Heimat in Polen zurückhaben will.
Lange warten wir auf die Zollabfertigung bei Gryfino. Zeit, in der die Sonne ihr Übriges tut. Das Schiff ist eingerahmt vom sich kräuselnden Wasser. Das Muster auf der Oberfläche: Petit-fleur, Pepita, keine reliefartigen Wellenrauten, wie sie entstehen, wenn die Spuren zweier aneinander vorbeifahrender Schiffe sich treffen.
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