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Spiel mit Popkulturschrott

Nachhallende Echos aus den versunkenen 90ern, rehabilitierte Gothic-Bassläufe und eine Jugend am Bodensee: Der Elektroniker Christian Kleine in der Astra-Stube

„Valis“ klingt irgendwie nach starker Kopfschmerztablette. Es ist aber in Wirklichkeit das literarische Vermächtnis des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Seine bedrohliche, zwischen Selbstreferentialität und Paranoia pendelnde Reise ins Ich ist zuerst 1981 erschienen. Sie beginnt mit Grateful Dead-Drogenweisheiten und Plato-Zitaten in Nordkalifornien und endet bei Verschwörungstheorien, extraterrestrischer Kommunikation und religiösen Wahnvorstellungen vor einem Fernsehgerät. Mit dem Vast Active Living Intelligence System (Valis) untersucht Dicks alter ego „Horselover Fat“ die Weltreligionen und stellt zu ihrer Beurteilung ein eigenes Regelwerk, die „Tractates Cryptica Scriptura“ auf.

Möglicherweise verbeugt sich der Berlin-Pankower Christian Kleine mit seinem neuen, beim Morr Music-Label erschienen Album Valis vor dem verstorbenen Schriftsteller phantastischer Literatur. Ihnen beiden gemeinsam ist jedenfalls ein spielerischer Umgang mit dem psychotischen Schrott von Popkultur. Wo sich durch Dicks Valis allerdings eine pessimistisch bedrohliche (Horror-)Vision zieht, ein Abgesang auf die amerikanische Hippie-Gegenkultur der sechziger und siebziger Jahre, verbindet Kleine in seinen Soundscapes Computerklänge mit analogen Instrumenten und pflanzt wie ein Emo-Hacker Quellen aus der Vergangenheit ungeniert in digitale Atmosphären. Dann wirkt selbst die tausendmal gehörte Basslinie von The Cure („The Forest“) nicht mehr eckig gothic, sondern verschlafen und friedlich, fast bukolisch. Nie klangen Indietronics idyllischer.

Kleines Vergangenheit als postrockender Musiker am Bodensee wurde an dieser Stelle schon einmal dokumentiert. Wie andere Vertreter von Morr Music hat auch er keine Angst vor schwelgerischen Gitarrensounds und anderen ambienthaften Elementen, die wie ferne Echos aus den versunkenen Neunzigern organisch widerhallen. Auch seine Beats tragen Spurenelemente anderer Genres von HipHop bis Drum‘n‘Bass, hier allerdings mit einem Mörser zerstampft, in ihre Einzelteile aufgelöst und durch Filter verfremdet, bis sie klingen, als würde man dick in Watte eingemummt zum Kopfnicken angehalten. Der Vorwärtsgang ist zwar eingelegt, aber Kleines Musik ist kein Futter für den Bewegungsdrang, sie richtet sich an ein Innen, wie immer es auch aussehen mag.

Begleiter Kleines auf dieser Journey into Sound wird Thomas Morr an den Plattentellern sein. Ob sich der baumlange Boss von Morr Music naheliegend extraterrestrisch von Berlin in die Astro-, äh, Astra-Stube beamt?

Julian Weber

Sonntag, 21.30 Uhr, Astra-Stube

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