: Wunderkind auf 64 Feldern
Sergej Karjakin ist zwölf Jahre und sieben Monate alt – und Großmeister im Schach. So jung hat das noch keiner geschafft, weshalb es nun heißt, der Knabe sei besser als der legendäre Bobby Fischer
von HARTMUT METZ
Die Schachwelt hielt das Gerücht noch im Januar für einen schlechten Scherz: Sergej Karjakin sei im Sekundanten-Stab von Ruslan Ponomarjow für das Kombinationsspiel zuständig, hieß es damals. Ein kleiner Junge, dessen Hände kaum übers Brett reichen, sollte dem 18-Jährigen zur Weltmeisterschaft gegen seinen ukrainischen Landsmann Wassili Iwantschuk verhelfen? Dass die Wahl nicht aus einer Laune heraus geboren war, zeigte sich dann zunächst beim Titelgewinn Ponomarjows. Und jetzt bestätigte der junge Karjakin seinen Chef mit einem unglaublichen Rekord: Im Alter von exakt zwölf Jahren und sieben Monaten eroberte das Wunderkind den Großmeister-Titel!
Die höchste Würde im Schach sicherte sich der am 12. Januar 1990 geborene Knabe endgültig auf der Halbinsel Krim. Nach den Topresultaten bei den Aluschta Open (Ukraine) und den Aeroflot Open in Moskau blieb Karjakin in Sudak in sämtlichen 13 Partien des Rundenturniers ungeschlagen. Sieben international klassierte Gegner setzte er dabei matt, sechs Partien remisierte der mit zehn Zählern am Ende Drittplatzierte. Mit der erforderlichen dritten Großmeister-Norm, die ihm den „schwarzen Gürtel“ des Schach-Weltverbandes Fide beschert, pulverisierte der U12-Weltmeister alle vorherigen Bestmarken: Als der legendäre Bobby Fischer 1958 mit 15 Jahren, sechs Monaten und einem Tag Großmeister wurde, glaubten die Experten an einen Rekord für die Ewigkeit, nicht einmal vergleichbar mit einem Neun-Meter-Satz im Weitsprung. Es kam einer Sensation gleich, als die noch heute überragende weltbeste Schachspielerin, Judit Polgar, 1991 zwei Monate früher Herren-Großmeister wurde. Als das nächste ungarische Ausnahmetalent, Peter Leko, nochmals ein Jahr weniger benötigte, gewöhnten sich die Denksportler an minimale Verbesserungen. So erntete auch Ponomarjow mit 14 Jahren und 17 Tagen diesen Ruhm. Zweifel am Geburtsdatum kamen lediglich beim entthronten Rekordhalter, Bu Xiangzhi, auf. Der Chinese wirkte körperlich viel zu groß und kräftig, als er 1999 mit angeblich 13 Jahren und zehn Monaten in die Annalen einging.
Beim schmächtigen Karjakin herrschen trotz des Quantensprungs keine Bedenken. Großmeister Dimitri Komarow erzählt von seiner ersten Partie mit dem Wunderknaben: „Als wir mit Ponomarjow im Trainingslager waren, spielte ich gegen Karjakin Blitzpartien. Nachdem ich sechs, sieben verloren hatte, spotteten die Kollegen entsprechend. Ich war natürlich genervt und forderte Ruslan auf, sich doch selbst mal hinzusetzen. Anschließend zertrümmerte er Ruslan mit einem Springeropfer, ein Turm folgte hinterher und am Schluss war Ponomarjow matt“, erklärt der Trainer des Weltmeisters mit weit ausholenden Armbewegungen und fügt euphorisch an: „Ich habe noch nie ein größeres Talent als ihn gesehen!“ Ex-Nationalspieler Otto Borik schlägt in die gleiche Kerbe. „Ich habe seine Partien studiert. Das ist ein Jahrtausend-Talent. Karjakin spielt mit zwölf eine Klasse besser als Bobby Fischer und Garri Kasparow in diesem Alter“, befindet der Chefredakteur des Schach-Magazins 64. Mehr als beeindruckt klingt auch Ponomarjow, wenn er nach dem Können seines ebenso in Kramatorsk lebenden Sekundanten befragt wird: „Schauen Sie sich nur seine Partien an“, sagte der jüngste Weltmeister der Schach-Historie immer wieder – und nahezu ehrfürchtig.
Bisher bezahlt ein Mäzen Karjakins Trainingslektionen. Das begnadete Talent wird beim Schachklub Momot-Donezk von Alexander Alexikow und Wladimir Sawon, dem sowjetischen Meister von 1971, betreut. Doch auch ohne Sponsoren rückt Karjakin wohl bald in die Top 100 der Weltrangliste vor. Ponomarjow denkt bereits weiter: „Es ist gut vorstellbar, dass wir uns irgendwann einmal im WM-Finale gegenübersitzen.“
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