: Ein Ort der Stille
Fünf Tage Resturlaub muss ich bis zum Monatsende verbrauchen. In dieser Zeit die Stadt für eine andere verlassen ist eine verlockende Idee. Während ich mich im Zug erhole, wartet die eine im Süden auf meine Rückkehr und die andere in der Mitte auf meinen Besuch. Berlin ist das Ziel und das Brandenburger Tor der Mittelpunkt meiner Reisepläne.
Berge, Täler, Schranken und Stunden überwinde ich zeitgemäss im ICE-Tempo. Während der Fahrt lese ich. Lektüre mit Szenetipps über mein Reiseziel interessiert mich gerade nicht. Seit ich die Freiheit habe, den eigenen Geschmack unverschämter auszuleben, entdecke ich sehr gern allein und zufällig die Orte, die mich anziehen.
Meine Freundin holt mich vom Bahnhof ab. Sie lebt für ein Jahr in Berlin. Wir gingen in Sachsen gemeinsam zur Schule, starben für dieselbe Popgruppe, sonnten uns auf geteerten Wohnblockdächern und rannten um die Wette in die Kaufhalle, wenn es das seltene „Stieleis“ gab. Nun treffen wir uns zum ersten Mal in der wiedervereinten Hauptstadt. Ein Ereignis, das früher, in einem anderen Leben, unmöglich war.
Vor 16 Jahren, wir machten Urlaub in der Hauptstadt, stand ich mit meinen Eltern am Brandenburger Tor. Das heißt, aus sicherer Entfernung, von dem Punkt aus, an dem wir stehen durften, schauten wir in Richtung Brandenburger Tor. Wir überlegten ernsthaft, wie es wäre, hindurchzugehen und auf der anderen Seite zu leben. Eine einfältige und kurzsichtige Träumerei, dennoch eine aufregende gedankliche Flucht aus dem (Berliner) Osten.
Dort vergnügten wir uns im zu jener Zeit todschicken Wellenbad – in der Halle nebenan wurde übrigens der DDR-Aerobic-Fetzer „Medizin nach Noten“ gedreht – oder bummelten einfach durch die Hauptstadt. In der Hoffnung, im versorgungsbevorteilten Berlin ein paar trendige Klamotten zu erwischen. Die nämlich konnten wir gut brauchen, wenn wir später am Flughafen Schönefeld klopfenden Herzens auf die Westbekanntschaft trafen und mit ihr gemeinsam Kaffee aus Mitropa-Tassen tranken.
Mein letzter Berlinbesuch war geprägt von einer Fahrt in einem total überfüllten Zug, vom Anstehen nach 100 Mark Begrüßungsgeld, einem enorm ausgedehnten Aufenthalt im Woolworth, der dortigen Entdeckung des schwarzen mehreckigen Geschirrs und dem heimlichen Eintritt in einen Sexshop. Das pralle Angebot hemmungsloser Bilder, die uns von allen Seiten unsere Herkunft ins Gesicht schrien, weil sie unser Weltbild voll Moral für ein paar Minuten gehörig durcheinander schüttelten.
Das alles war Berlin einmal für mich. Zum ersten Mal erlebe ich jetzt die Stadt bewusst als Ganzes. Mein Spaziergang durch das Brandenburger Tor macht diesen Eindruck perfekt. Und genau an diesem Ort entdecke ich auf einmal einen so genannten Raum der Stille. Einen Raum der Stille, einen Ort der Besinnung, der Völkerverständigung, des Friedens, zurückhaltend hervorstechend an dem Ort, an dem die Wiedervereinigung ihren unwiderruflichen Lauf nahm. Mir kommt in den Sinn, dass damals, als das Brandenburger Tor noch in der verbotenen Zone stand, es an sich dazu verdonnert war, ein Ort der Stille zu sein.
Mit der Öffnung der Grenzen im November 1989 hatte der Lärm endlich eine Chance. Und die nutzte er unaufhaltsam, rücksichts- und besinnungslos aus. Doch die Stille am Brandenburger Tor behauptete ihren Raum. Dort führt sie nunmehr ein Nischendasein, wirkt aber eindringlicher denn je zwischen Vergangenheit und Zukunft.
CORNELIA SCHEFFLER
Cornelia Scheffler, 29, wuchs im sächsischen Karl-Marx-Stadt auf. 1990 siedelte sie um in den Schwarzwald, studierte BWL mit Schwerpunkt Tourismus.
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