: berliner szenen Für immer klein in Mitte
Die Niedlichen
Es hat der Monopolisierungsprozess, die Welle der Konzernpleiten und das Ende der Erbenwirtschaft eine Gruppe von Menschen hervorgebracht, die zwar alle dem Gesetz nach mündig sind und bezüglich Führerscheinfragen oder Schulabschlussangelegenheiten auch darauf beharren, es zu sein, die sich aber sonst alle Mühe geben, auch als Vierzigjährige noch so zu tun, als seien sie vierzehn. Man nennt sie: die Niedlichen.
Gern malen sie Kinder mit großen Augen an die Wände, hören aufdringliche Orgel-Quietschmusik, schminken sich grell und reden von Revolution, meinen aber Pippi Langstrumpf. Eine Variante der Niedlichen sind die Neopunks, die ich, der ich in Mitte arbeite, jeden Morgen auf dem Weg in ihre Büros treffe. Sie haben sich tapfer einen Iro gekämmt, die Haare drastisch gefärbt und starke Lippenstiftfarben gewählt und manchmal sogar Metall in den Ohrläppchen. Sie tragen vielleicht sogar RAF-T-Shirts – und proben den Aufstand, indem sie morgens um 9 Uhr in ihre Agenturen und Designstuben streben. Sie gehören zum Stadtbild und feiern inmitten von Sparzwängen und Gentrifikation ihre Verkindlichung. Und sie glauben tatsächlich, die Welt zu verändern.
Früher glaubte ich ihnen nicht und wartete auf ihr Großwerden. Heute weiß ich: Sie bleiben klein. Und sie werden die Welt verändern, wenn auch anders, als sie meinen. Neulich sah ich an der Schönhauser Allee einen Niedlich-Slacker-Junge und ein Niedlich-Punk-Mädchen aus der S-Bahn herauspurzeln, beide mit bekritzelten Turnschuhen. Er sagte zu ihr den Satz, von dem ich jetzt weiß, dass in ihm alles Übel steckt: „Ich bin jetzt dreimal den ganzen Ring gefahren und musste gar nicht Pipi.“
JÖRG SUNDERMEIER
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