: Hartzens Höllenfahrt
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Peter Hartz sah das Kommissionspapier noch einmal durch. Ja, es war zu machen: Jobcenter mit Internetcafés, Mobilmachung der Verheirateten, Steuernachlass für Unternehmen, schmerzlosere Frühverrentung, Personal-Service-Agenturen statt Arbeitsämter. Hartz nickte: PSA, das klang besser als Leiharbeit; und Ich-AG sanfter als Niedriglohn. Er nickte zufrieden: Da lag eine gewisse … semantische Eleganz in dem Report. Aber ohne Modul 13 würde es schwer werden. „Profis der Nation“, murmelte er, „ohne die geht es nicht.“ Vor allem nicht ohne die Profis für Gedanken, Wörter und Gefühle: 1,3 Millionen Wissenschaftler, 89.000 Journalisten und 260.000 Künstler. Die mussten mitmachen. Deshalb das Teilmodul LIMBO: Literaten und Intellektuelle Mobilisieren zur Beschäftigungs-Offensive. Zunächst hatte er es DANTE nennen wollen – Denker und Artisten in die Notwendige Transformation Einbinden – aber das klang zu direktiv. Oder war DANTE doch besser? Nein, es war halb zwölf, jetzt keine Änderungen mehr. Hartz ließ sich die Diskette auswerfen. Er wollte heute Nacht in Berlin sein und vor der Präsentation im Dom ausschlafen. Draußen wartete der Fahrer, blau hingen die beiden Buchstaben über Wolfsburg.
Kurz hinter Helmstedt kam der Stau. Sie nahmen eine Landstraße in Richtung Haldensleben. Als der Wagen hielt, schreckte Hartz hoch. Ein Eber lag auf der Straße, aus dem Passat tropfte Kühlwasser. Es war halb zwei. Ein alter Unimog kam vorbei, der Fahrer ließ sie hinten aufsteigen. Auf der Pritsche saßen drei Männer, einer in Kniebundhosen, ein zweiter vollbärtig. Der dritte trug eine verwaschene Samtjacke, war offensichtlich betrunken. Hartz setzte sich dicht zur Ladeluke. Der Unimog rumpelte durch die Nacht. Die Männer ließen eine Flasche kreisen. Aus Höflichkeit nahm Hartz einen Schluck. Er staunte: 89er St. Emilion, ohne Zweifel. Wie kamen die dazu, dachte er noch, dann überkam ihn Müdigkeit. Durch einen leichten Bordeaux-Schleier drang undeutlich das Gespräch der drei Mitfahrer.
„Wisst ihr eigentlich“, sagte der mit der Kniebundhose, „dass viele Maschinen von einfachen Arbeitern erfunden worden sind? Ich erinnere mich: Bei den ersten Dampfmaschinen in Manchester mussten neunjährige Jungens den Durchlass vom Kessel zum Zylinder abwechselnd öffnen und schließen, wenn der Kolben herauf- oder herunterging. Einer dieser Jungens verband den Griff des Ventils durch eine Schnur mit einem anderen Teil der Maschine, so öffnete und schloss es sich von selbst, und er konnte mit seinen Freunden Ball spielen.“
„Genau“, sagte der Bärtige, er hatte einen stechenden Blick und ruckelte auf seiner Sitzfläche hin und her, als plagte ihn irgendein Ausschlag auf dem Gesäß, „das war der Anfang der Automatisierung. Im Verlauf des Prozesses usurpierte das Kapital die kreativen Kräfte der kooperativen Arbeit. In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums von der Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion abhängig. Und es ist das Verständnis der Natur und die Bildung aller, worauf der Reichtum beruht. Damit hört die Arbeitszeit auf, das Maß für den Reichtum zu sein. An ihre Stelle tritt die freie Entwicklung der Individualitäten, die Reduktion der notwendigen Arbeit zu einem Minimum und die künstlerische, wissenschaftliche usw. Ausbildung der Individuen in der frei gewordnen Zeit. Also, ich meine, die Arbeit kann nicht Spiel werden …, aber die freie Zeit, Mußezeit und Zeit für höhere Tätigkeiten verwandelt ihre Besitzer natürlich in ein anderes, selbstbewusstes Subjekt …“
„Da kannst du aber lange drauf warten“, sagte der Dritte, „bevor die begreifen, dass sie ein historisches Recht auf den Reichtum haben.“ Er nahm einen Schluck und rülpste. „Dieser kleine Knabe in Manchester, von dem Schmittle erzählt hat, der wusste eben noch, worauf es ankommt: Zeit zu haben fürs Spielen und für die Liebe. Kulturgesellschaft nannten das die Sozis mal. Aber die Unterwürfigkeit steckt ihnen allen in den Knochen, und all diese Predigten, die ihnen sagen, sie sollen sich wieder zu Sklaven machen. Ich habe neulich wieder mal einen Zug gemacht. Vor der Tür der letzten Kneipe hielt mir ein Bettler die Mütze entgegen, mit diesem eklig unterwürfigen Blick. Ich will ihm schon was geben, da flüstert mir eine innere Stimme zu: ‚Nur der ist dem anderen gleich, der es beweist, und der nur der Freiheit würdig, der sie zu erobern vermag.‘ So eine innere Stimme eben. Ich schmeiße mich also auf den Bettler, schlage ihm zwei Zähne ein, haue ihn mit dem Kopf mehrmals heftig gegen die Mauer, und als er im Rinnstein liegt, nehme ich mir einen Ast und prügele ihn weich wie ein Steak.“ Die beiden anderen Mitfahrer murrten: das sei zynisch. „Moment“, lallte da der Mann mit der Samtjacke, „bin noch nicht zu Ende. Kaum liegt dieses Gerippe also kaputt in der Gosse, springt er auf, schmeißt sich auf mich. Mit einem wunderbaren Blick voller Hass im Gesicht. Ein gutes Zeichen, denk ich noch, aber da hatte ich schon zwei blaue Augen und vier Zähne weniger und er drosch mit einem Ast auf mir rum. ‚O.K.‘, hab ich gebrüllt, ‚O.K. Das reicht.‘ Bin aufgestanden und hab ihm gesagt: ‚Mein Herr, Sie sind mir gleich! Bitte geben Sie mir die Ehre, meine Börse mit Ihnen teilen zu dürfen. Und falls Sie ein wirklicher Menschenfreund sind, wenden Sie bei all Ihren Mitbrüdern, wenn sie um Almosen bitten, die Theorie an, die auf Ihrem Rücken zu erproben ich soeben den Schmerz hatte.‘ “ Er grinste herausfordernd. „Du hast eben einen Spleen“, sagte der Älteste, lachend wie sein bärtiger Nebenmann, der nur murmelte: „Ach, wenn es so einfach wäre …“
Dann musste Peter Hartz eingeschlafen sein. Der abrupte Halt ließ ihn fast umkippen, aber der Bärtige fing ihn auf. „Limbo“, sagte er, „Endstation für uns. Sie müssen jetzt allein weiterfinden. Wenn Sie nach Osten gehen, sind sie in einer halben Stunde am S-Bahnhof Griebnitzsee. Hartz stieg ab. Neben ihm stand der Fahrer, im fahlen Licht des Morgens. „Vielen Dank“, sagte Hartz, „wie heißt Ihre Firma?“ „Vereinigung zur Genossenschaftlichen Industrialisierung des Landkreises“, entgegnete der Alte, „wir sind ein nicht eingetragener Verein.“ – „Und die da oben?“, fragte Hartz. „Ach, langjährige Mitarbeiter, nicht totzukriegen …“ Der Fahrer murmelte drei Namen, die wie Schmidt, Mack und Bodler klangen, setzte sich hinters Steuer, und der Unimog ruckelte an. VERGIL stand auf der Heckklappe. Im Licht der aufsteigenden Sonne sah Peter Hartz seine drei Mitfahrer winken. „Viel Spaß bei deiner Komödie mit den Profis der Nation“, rief ihm der Bärtige zu. Und Bodler, oder wie er hieß, schwenkte die Flasche: „Wie nennst du jetzt die Sklavenhändler? PSA? Das ist göttlich.“ Sie lachten dröhnend, bis sie um die Ecke bogen.
In Griebnitzsee nahm Hartz die erste S-Bahn. Er ging noch einmal seine Rede durch. Waren Dichter und Intellektuelle wirklich fürs Modul 13 brauchbar? Der Gedanke streifte ihn nur kurz. Im Französischen Dom warteten sie schon auf ihn.
(Quellen: Dante, „Göttliche Komödie“; Adam Smith, „Reichtum der Nationen“; Karl Marx, „Grundrisse“; Baudelaire, „Haut die Armen!“)
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