piwik no script img

off-kino Filme aus dem Archiv –frisch gesichtet

Als Ausgangspunkt der Arbeit an „Vivre sa vie“ (1962) diente Regisseur Jean-Luc Godard das zeitgenössische Buch „Ou en est la prostitution“ (Wo befindet sich die Prostitution) des Richters Marcel Sacotte, das Godard an einer Stelle auch direkt zitiert: Zu den Bildern einer Montagesequenz, die die Hauptfigur Nana (Anna Karina) bei der Arbeit mit ihren Kunden zeigt, stellt sie ihrem Zuhälter Raoul (Sady Rebbot) aus dem Off Fragen zum Thema Prostitution, die dieser ganz sachlich mit den von Richter Sacotte eruierten Fakten beantwortet – wo die Prostituierten arbeiten, wie viel sie verdienen, wen sie als Kunden zu akzeptieren haben, welche behördlichen Auflagen es gibt.

Doch Godard wäre nicht Godard, wenn er mit seinem Film bloß eine soziologische Studie im Kopf gehabt hätte. Die in zwölf Kapitel gegliederte Fallstudie von Nanas kontinuierlichem „Abstieg“ (Geldmangel, Hinauswurf wegen Mietschulden, der „erste Mann“, schließlich der Tod im Streit zwischen zwei Zuhältern) ist nur ein Aspekt der Geschichte, der von Godard zudem in einer überaus Distanz schaffenden Weise abgehandelt wird: Die Szene, in der Nana von der Vermieterin am Betreten ihrer Wohnung gehindert wird, spielt sich auf einem Hof ab, den die Kamera in einer einzigen Einstellung von weit oben überblickt. Versteckspiel, Gerenne, Kampf um den Wohnungsschlüssel – der Gehalt der Szene ist dramatisch, die Inszenierung distanziert. Auch die Gesprächssituationen in „Vivre sa vie“ sind nicht in die herkömmlichen, zur Identifikation einladenden Schuss-Gegenschuss-Einstellungen aufgelöst: So blickt man in der Eingangssequenz beispielsweise minutenlang auf die Hinterköpfe von Nana und ihrem Freund Paul, die sich im Halbdunkel einer Bar unterhalten.

Die Leidensgeschichte der Nana verknüpft Godard mit Carl Theodor Dreyers Stummfilm „La passion de Jeanne d’Arc“, den sich Nana im Kino anschaut: Einerseits verweist Jeannes Ende (man sieht die Szene, in der ihr das Todesurteil verkündet wird) auf Nanas Schicksal, andererseits arbeitet Godard in „Vivre sa vie“ selbst mit den Mitteln des Stummfilms.

Die Kapitelüberschriften werden wie Zwischentitel verwendet; an einer Stelle setzt gar der Ton aus, und die Dialoge erscheinen in Untertiteln. Immer wieder experimentiert der Regisseur mit dem Verhältnis von Bild, Wort und Ton: ein filmischer Essay, der in Nanas Gespräch mit Brice Parrain auch philosophischen Tiefgang gewinnt und sich der Frage widmet, ob Denken und Reden gleichzusetzen sind.

Am Schluss steht dann eine etwas verquere Liebeserklärung Godards an seine damalige Frau Anna Karina: Nana hat einen jungen Mann kennen gelernt, der ihr die Geschichte „Das ovale Porträt“ von Edgar Allen Poe vorliest. Doch die Stimme ist die von Godard, er erzählt vom Maler, der ein lebensechtes Porträt seiner Geliebten malt und sich so in seine Arbeit vertieft, dass er nicht merkt, dass sie unterdessen stirbt.

Für die Beziehung zwischen Godard und Karina bedeutete „Vivra sa vie“ übrigens den Anfang vom Ende, erzählte Godard später, denn Karina befand, er habe sie sehr hässlich porträtiert.

„Vivre sa vie“ 30. 8. im Filmtheater am Friedrichshain; 1. 9. im Delphi; 4. 9. im Lichtblick

***

Das genaue Gegenteil von Godards Essayfilm: Michael Curtiz’ „Casablanca“, geradezu das Synonym für die Brillanz des alten Hollywood-Studiosystems.

Klassisches Starkino, exzellent besetzt bis in kleinste Nebenrollen hinein, inszeniert von einem Regisseur mit Sinn für Action, Stimmung und Humor. Die ungeheure Popularität des Films beruht wohl in erster Linie auf der romantischen Liebesgeschichte (wobei Ingrid Bergman sich stets bitterlich darüber beklagte, dass das Drehbuch bei Drehbeginn nicht fertig war und sie gar nicht wusste, ob sie am Ende mit Barbesitzer Bogart oder Widerstandskämpfer Henreid ins Flugzeug steigen würde), doch aus heutiger Sicht erweist sich der Film auch als ein sehr vielschichtiges Werk, das selbst Aspekte wie Kollaboration, Widerstandskampf und Emigration mühelos (und nicht einmal ohne Humor) in das Melodrama von der verlorenen Liebe einbettet. In der Wiederaufführung mit neuen Kopien ist der Film in Deutschland nun erstmals auch im Original mit Untertiteln zu sehen. Play it again, Sam.

„Casablanca“ (OmU) 29. 8. im Freiluftkino Insel; 29. 8.–3. 9. im Nickelodeon; 29. 8.–4. 9. Neue Kant Kinos 5, Sputnik Südstern

LARS PENNING

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen