: Mit der Postkutsche durch das Erzgebirge
Nicht nur der Dresdner Hauptbahnhof, auch 200 Kilometer Schienen sind in Sachsen zerstört worden. Da hilft nur der „Busnotverkehr“
DRESDEN taz ■ Es war einmal ein Groschenroman, und der begann so: „Der Konzertsaal war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das Züricher Publikum hatte sich aus doppeltem Anlass um die teuren Karten gerissen …“ Der Rest ist nicht mehr zu lesen, die 66 Seiten von „Sophienlust“ gären als Kompost auf einem der Müllcontainer am Dresdner Hauptbahnhof. Züge fahren hier kaum noch, Schubkarren umso mehr. Alles ist Dreck, alles ist Müll, sächsischer Acker hat sich in braunen Eiter verwandelt.
„Im Prinzip“ – die zwei Wörter sind Wolfgang Adlers Balancierstange auf seinem Weg durch den Dresdner Hauptbahnhof. „Das hier war im Prinzip die Bauarbeitergarderobe.“ Wolfgang Adler ist Chef der Bahnreinigungsgesellschaft BRG und damit Meister der Karren, Schippen und Besen. Aufräumen ist sein Job, doch das hier ist kein Hausputz, das hier ist Kehraus, außer nackten Wänden bleibt nichts zurück. Adler geht weiter, vorbei an Frauen, die im Dunkeln hocken und in ihre Bemmen beißen, eine ist die Pächterin des hiesigen Waschsalons. Waschmaschinen stehen herum – Schrott.
Kurzer Blick in eine andere Höhle. „Hier, die Kantine macht nimmermehr auf.“ Adler, ein freundlicher Sachse mit leicht schaukelndem Gang, hat die Gummistifel schon wieder gegen Halbschuhe gewechselt. Er steigt hinunter in die Gewölbe unter den Bahnsteigen, die schon bei Normalbetrieb nicht gastlich sein dürften, jetzt aber sind sie halb Tropfsteinhöhle, halb Verlies. Molchen und Asseln gefällt so etwas.
Vom Dunkel im Untergrund
Wolfgang Adler tastet sich vorwärts, Schemen stehen in Ecken, Lichtstrahlen aus Taschenlämpchen suchen nach Zielen, in der Finsternis sind Kabel und Schaltkästen bestenfalls zu ahnen, Schlamm schmatzt, und eine Frage heischt nach Antwort: Ist der Strom auch abgeschaltet? „Hier liegt bloß Notstrom drauf“, beruhigt Wolfgang Adler und tippt auf einen Lichtschalter. Nichts geschieht. Wo ist der Notstrom? „Im Prinzip …“ Wolfgang Adler macht eine kurze Pause, zieht dann weiter durch das Schattenreich und schweigt. Draußen am Ausgang blinzelt er in die Sonne, sieht auf seine verschlammten Schuhe und findet wieder Worte. „Also, es hat im Prinzip nischt verschont.“
Einem Vergleich mit dem Leipziger Hauptbahnhof hält der Dresdner schon in gewöhnlichen Zeiten nicht stand. Aber jetzt ist der Bau herabgewürdigt zu einer Baracke, keine Durchsagen, keine Reisenden, keine Hektik, vier Züge meldet die Anzeigetafel. Früher fuhr vom Dresdner Hauptbahnhof der ICE nach Stuttgart, heute fahren Züge die zwanzig Kilometer nach Meißen – höchstens. Leipzig, 66 Minuten Fahrzeit von Dresden Hauptbahnhof, ist unerreichbar.
Hier lässt sich der Rückschlag bemessen: 163 Jahre. Sachsen hatte 1839 mit dem Bau der ersten deutschen Fernstrecke zwischen Leipzig und Dresden die Nase vorn. Schöne Erinnerung. Der ganze Bahnhof ist ein Abstellgleis, nur der Zeitungsstand hält mit seinem Notverkauf Anschluss an die Welt. El País, Le Monde und die Iswestija aus Moskau könnten die Reisenden kaufen, bevor sie zu ihrer Fahrt nach Radebeul-Kötzschenbroda aufbrechen. Dumm, dass sich die Weißeritz an ihr früheres Flussbett erinnert hat, in das die Dresdner vor über hundert Jahren die Geleise für die neue Eisenbahn gelegt haben.
„Sachsenmagistrale“, das ist ein würdiges Wort für den oberhalb Dresdens verbauten Solidaritätsbeitrag, ein „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit“. Weiße Pfeile donnerten mit 160 Sachen vom Elbtal durch das Erzgebirge und weiter gen Süden. Vorbei auch am Bahnhof Tharandt im Weißeritztal. Hier hat das Wasser die Schautafel mit dem Bundesadler umgelegt, am 9. September sollte der Bahnhof eingeweiht werden.
Die Sachsenmagistrale ist in diesem Tal Vergangenheit, Busnotverkehr heißt die Gegenwart, Schienenersatzverkehr die Zukunft. Busnotverkehr ist die motorisierte Version der Postkutsche – zwar gibt es Fahrpläne, doch bei Staus, gesperrten Straßen und zerstörten Brücken müssen die Busfahrer kreativ sein, um ans Ziel zu kommen, Fahrpläne sind bestenfalls Richtwerte.
Schienenersatzverkehr wird später Fahrplankomfort bieten. Wann hier wieder Züge fahren, ist ungewiss. Der Bahnhof Tharandt mit seinen Geleisen – auf manchen ist nie ein Zug gerollt – wird großenteils abgerissen: Signale, Weichen, Oberleitungen, Schwellen, Bahnsteige, Schotter, aufgerissene Kabelschächte. „Das glänzt alles noch, riecht neu und ist alles Müll.“ Kai Friedländer ist seit 15 Jahren bei der Bahn. „Man muss ganz emotionslos anfangen“, sagt er und blickt durch die Sonnenbrille über die zerstörte Bahnhofslandschaft. „Ein Jahr, das wird nicht reichen.“
Von der Magistrale zum Feldweg
Insgesamt rund 200 Kilometer Geleise sind in Sachsen zerstört. In einer Zeit, in der bereitwillig Milliarden ausgegeben werden, um zwölfeinhalb Minuten Fahrzeit zu sparen, ist das ganze Elbtal abgehängt. Am Bahnhof Tharandt fahren Radlader und Kräne. „Gott sei Dank haben wird die Zweiwegefahrzeuge!“, sagt Friedländer und zeigt auf einen Kran, der auf Straßen wie auf Geleisen fahren kann. Andernfalls hätten sie wohl Arbeitspferde nehmen müssen.
Die Maschinen schließen die ausgespülten Krater mit Schotter – die Reste der Sachsenmagistrale werden zu einem Feldweg verdichtet, damit die Trasse von Treibgut und Schienenmüll geräumt werden kann.
Der Baustab der Bahn hat eine Prioritätenliste erstellt; zunächst sollen die Hauptstrecken provisorisch repariert werden: diejenige nach Leipzig und auch die „rollende Landstraße“ nach Tschechien. Die Sachsenmagistrale jedoch nicht – provisorisch lässt sich hier einfach nichts mehr flicken, die Strecke, von der teilweise nicht einmal mehr der Damm vorhanden ist, muss ganz neu gebaut werden.
Auf der Rückfahrt nach Dresden meldet das Autoradio endlich Gutes: Die Volleyball-WM der Damen werde wie geplant am Wochenende in Dresden stattfinden. Schwierig sei es allerdings, die Spielerinnen aus ihren Quartieren in Riesa zu der Halle in Dresden zu transportieren. Eisenbahner Friedländer ächzt leise, schweigt und schaut in die Sonne. Die Bahn betrifft das nicht, sie hat vorerst mit sich selbst zu tun – Riesa ist bis Oktober unerreichbar: Dann wird voraussichtlich eine provisorische Brücke stehen. Die alte hat die Elbe mitgenommen.
THOMAS GERLACH
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