: Gebraucht wird jetzt Gelassenheit
Die neue Dimension des Terrorismus hat kein kollektives Gefühl des Bedrohtseins verursacht. Zum Glück, denn die eigentliche Macht von Extremisten würde darin bestehen, eine freiheitliche Gesellschaft zum Verrat an ihren eigenen Werten zu bewegen
von BETTINA GAUS
Wer die Unwägbarkeiten und Risiken des eigenen Lebens oder das der nächsten Angehörigen anschaulich schildern will, verweist gerne auf einen jederzeit möglichen Unfall auf der Autobahn. Daran hat sich im Lauf des letzten Jahres nichts geändert. Vielleicht ist die Welt seit dem 11. September 2001 tatsächlich nicht mehr dieselbe wie vorher – auf die Lebensplanung oder das individuelle Sicherheitsgefühl der einzelnen Bewohner westlicher Industriegesellschaften scheint der Zusammenbruch der Türme des World Trade Centers aber keinen nachhaltigen Einfluss gehabt zu haben. Mag die eigene Sorge oder Betroffenheit im Zusammenhang mit den zurückliegenden Terroranschlägen auch noch so eindrücklich artikuliert werden.
„Ich kann schließlich nächste Woche von einer Bombe zerrissen werden.“ Oder: „Wenn ein Jumbo in ein Atomkraftwerk gelenkt wird, ist alles ohnehin egal.“ Oder: „Wer sagt mir denn, dass mein Kind nicht morgen auf dem Weg zur Schule einem Gasangriff zum Opfer fällt?“ Solche Sätze würden im tiefsten deutschen Frieden bestenfalls befremdet aufgenommen, während der – statistisch – auch nicht gerade wahrscheinliche Autounfall allseitig als Metapher für unkalkulierbare Schicksalsschläge akzeptiert wird. Ist das ein Hinweis auf kollektive Realitätsverweigerung?
Niemals zuvor in der Geschichte waren die technischen Möglichkeiten und die Reichweite terroristischer Anschläge vergleichbar groß wie heute. „Alle westlichen Zivilisationen, die ihre Macht genießen, sind in ihrem Inneren sehr schwach“, heißt es in einem Leitfaden für die Attentäter vom 11. September.
Hoch technisierte Staaten sind schwach
Leider kann dieser Satz erweitert werden: Schwach sind auch westliche Zivilisationen, die ihre Macht keineswegs genießen oder sich dieser nicht einmal bewusst sind. Alle Kontrollmöglichkeiten, die bisher praktiziert oder zumindest hinsichtlich ihrer potenziellen Wirkung erörtert werden, sind unzulänglich – gemessen am Ausmaß der Bedrohung. Selbst wenn es gelingen könnte, alle Flugpassagiere und Piloten dieser Welt einschließlich der Bemannung von Segelflugzeugen einer akribischen Sicherheitsprüfung zu unterziehen: Es würde nicht reichen.
Der US-Physiker Richard Garwin hat kürzlich in einem Aufsatz zusammengefasst, wie gerade die Stärken und Errungenschaften hoch technologisierter Gesellschaften gegen diese verwendet werden können. Ein Anschlag auf Transporte von Industriechemikalien hätte sogar dann weitreichende Folgen, wenn die Zahl der unmittelbaren Opfer vergleichsweise klein wäre. So zöge beispielsweise die radioaktive Verseuchung von verkehrswichtigen Tunneln unkalkulierbare ökonomische Folgen nach sich. Die Explosion mehrerer tausend Tonnen Ammoniumnitrat, die sich auf einem Schiff im Hafen befinden, hätte – so Garwin – die Wirkung einer kleinen Atombombe.
Auch eine unmittelbare nukleare Bedrohung lässt sich nicht ausschließen. „Fünfundfünfzig Jahre technologischer Entwicklung und Wissensverbreitung haben es relativ einfach gemacht, eine 20-Kilotonnen-Atombombe zu bauen, wenn genügend hoch angereichertes Uran verfügbar ist, wovon es in Russland einen Überschuss von 1.000 Tonnen gibt“, schreibt der Wissenschaftler.
Wie tückisch schleichende Angriffe mit biologischen Waffen sein können, hat im letzten Jahr die Serie von Briefen gezeigt, die mit Anthrax-Pulver versetzt waren und mehrere Todesopfer gefordert haben.
Anonyme Gefahr aus dem Briefumschlag
Alles deutet inzwischen darauf hin, dass die Anthrax-Briefe nicht von Islamisten verschickt worden sind. Dennoch schien der entsprechende Verdacht zunächst unabweisbar zu sein. Er gründete sich nicht auf mögliche Täterprofile oder auf bestimmte Merkmale des Vorgehens, die ohnehin nur von Spezialisten analysiert werden können, nicht einmal in erster Linie auf die zeitliche Nähe zu den Anschlägen vom 11. September.
Bestimmend für die Annahme, dass hinter beiden Vorgängen dieselben Drahtzieher steckten, war eine andere Gemeinsamkeit: das tödliche Schweigen der Attentäter. Sie haben ihre Ziele nicht benannt, keine Forderungen gestellt und keine Bekennerbriefe verfasst – und falls sie es doch getan haben, hat die Öffentlichkeit davon nichts erfahren. Sie sah die Taten. Sonst nichts. Eine unheimlichere Form der Gewaltausübung ist schwer vorstellbar.
Viele außenpolitische Beobachter sind sich darin einig, dass es niemals zuvor in der Geschichte eine vergleichbar starke und einflussreiche Weltmacht gegeben hat wie heute die USA. Aber niemals zuvor konnte es Einzelnen auch gelingen, mit ihren indviduellen Taten so große Wirkungen zu erzielen wie heute. Terroristen brauchen keine Armeen und kein militärisches Gerät. Traditionelle Aufrüstung ist als Mittel der Gefahrenabwehr völlig wirkungslos – selbst ein perfekter Raketenabwehrschirm der USA hätte den Anschlag auf das World Trade Center nicht verhindern können.
Hinzu kommt, dass die Ziele und die Vorgehensweise religiös motivierter Terroristen den Rahmen dessen sprengen, was der Westen bislang unter politischer Gewalt verstanden hat. „Für den religiösen Terroristen stellt Gewalt zuerst und vor allem einen sakramentalen Akt oder eine von Gott gebotene Pflicht dar“, schreibt der Terrorismusexperte Bruce Hoffman. „Während weltliche Terroristen, selbst wenn sie dazu in der Lage sind, selten zu wahllosen Tötungen großen Stils greifen, weil solch eine Vorgehensweise nicht mit ihren politischen Zielen in Übereinstimmung zu bringen ist und daher als kontraproduktiv, wenn nicht als unmoralisch betrachtet wird, geht es religiös motivierten Terroristen häufig um die Auslöschung möglichst weit gefasster Feindkategorien, wobei sie Gewalttätigkeiten in großem Ausmass nicht nur als moralisch gerechtfertigt, sondern als notwendige Mittel zur Erreichung ihrer Ziele ansehen.“
Und da machen wir uns Sorgen über einen Autounfall? Ja, gottlob. Nichts anderes wäre besser geeignet, den Einfluss von Terroristen wirksam zu begrenzen als die fehlende Bereitschaft westlicher Gesellschaften, sich deren Logik zu unterwerfen und sich dem psychologischen Terror zu beugen, der Gewalttaten regelmäßig begleitet. Macht und Einfluss werden nicht nur gewonnen – sie werden auch verliehen. Selbst an Terroristen. Wenn der Verkehr sogar an solchen Tagen unvermindert über die Golden-Gate-Brücke rollt, an denen US-Dienste vor möglichen Anschlägen auf das Bauwerk warnen, dann wird Attentätern damit genau jene Macht verweigert, die sie zu erringen suchen.
Verändert die Macht des Terrors unser System?
Dem liegt gewiss keine kollektive, bewusste Entscheidung zugrunde. Die Fähigkeit zur Verdrängung und ein erheblicher Mangel an Fantasie dürften die Hauptursachen dafür sein, dass Furcht bislang kein dominierender Faktor des politischen Klimas geworden ist und weder Panik noch Hysterie die Gesellschaften des Westens beherrschen. Das muss so nicht bleiben. Natürlich birgt jeder neue Anschlag (auch) die Gefahr eines tiefgreifenden Stimmungsumschwungs in sich. Aber eben nicht nur ein Anschlag – sondern unter Umständen auch vorbeugende Maßnahmen dagegen, die das bisherige Kräfteverhältnis zwischen größtmöglicher Sicherheit und größtmöglicher Freiheit zu Lasten der Freiheit verschieben. Denn in diesen Maßnahmen liegt eine bedrohliche Botschaft: dass nämlich die Macht der Terroristen groß genug ist, um unser System grundlegend zu verändern.
Einen vollständigen Schutz vor Terroranschlägen gibt es nicht. Diese Herausforderung ist jedoch nicht neu. Neu ist vielmehr, dass auch die mächtigsten Staaten der Erde lernen müssen, sich angesichts der Grenzen ihrer Macht in Gelassenheit zu üben. Zum vielleicht ersten Mal in der Geschichte sehen sie sich einem Feind gegenüber, der allenfalls psychologisch, nicht aber technisch und militärisch dauerhaft zu besiegen ist. Lernen die Regierungen es nicht, sich auf diese Situation einzustellen, dann könnte es den Terroristen gelingen, den Westen in seinem Kern zu zerstören, ohne eine einzige weitere Gewalttat verüben zu müssen. Bisher sieht es so aus, als seien die Gesellschaften im Umgang mit der neuen Herausforderung den politischen Eliten ihrer Länder weit voraus.
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