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Shanksville, wo der neue Krieg begann

In Pennsylvania, wo eines der vier entführten Flugzeuge abgestürzt ist, weiß man, wie scheinbare Gewissheiten zerbrechen. Eine Ortsbesichtigung

aus Shanksville MICHAEL STRECK

Der Krater ist nicht mehr zu erkennen. Die Erde frisch planiert. Nur eine große Fahne und ein Zaun markieren noch die Stelle. Als der Flug United Airlines 93 hier bei Shanksville, Pennsylvania, auf den freien Acker stürzte, erfuhr Marc Peters davon an seinem Arbeitsplatz in Kentucky. „Ich war wie gelähmt, konnte es einfach nicht glauben.“ In der Stahlfabrik wurden alle Maschinen abgestellt. Es sei unheimlich still gewesen. Jetzt steht der 22-Jährige vierhundert Meter entfernt von der Absturzstelle auf einer kleinen Ebene, auf der das provisorische Mahnmal für die 45 Todesopfer – 38 Passagiere und 7 Besatzungsmitglieder – errichtet ist.

Marc ist nicht allein an diesem ersten Sonntag im September. Vor der Wand aus Fähnchen, Zetteln, Fotos, Blumen und Gedenksteinen drängen sich die Menschen. Autos und Motorradschlangen verstopfen die kleine Landstraße. Blaue Mietklos sind aufgereiht. „Let’s roll“, Los geht’s, steht eingemeißelt in den Granit – die letzten überlieferten Worte von Passagieren, bevor sie das Cockpit stürmten und die Boeing hier in die Erde Pennsylvanias rammten, um Schlimmeres zu verhindern.

Marc, der schmächtige Mann mit den vielen Ohrringen, Ziegenbart und Armen voller Tattoos, spricht von Heldenmut und sagt, er würde sofort nach Afghanistan kämpfen gehen, wenn er dürfte. Leider wurde er ausgerechnet letztes Jahr ausgemustert. „Ich war von der Dimension der Anschläge überrascht, nicht dass es Anschläge hätte geben können. Damit mussten wir rechnen“, sagt er. Ussama Bin Laden habe doch schon lange auf der Fahndungsliste des FBI gestanden.

Es fehlt ein Fernrohr

Während er spricht, schieben sich Terrortouristen aus dem ganzen Land mit Videokameras an ihm vorbei. Wo denn nun genau das Flugzeug abgestürzt sei, fragen sie und warum man dort nicht hinkomme. Es fehlt ein Fernrohr mit Münzeinwurf.

Dann würde man vielleicht hinter dem unsichtbaren Krater und dem angrenzenden Waldstück die Schule von Shanksville erkennen. Dort hatte die 12-jährige Katelynn Foster am 11. September gerade Matheunterricht, als es einen gewaltigen Knall gab, das Gebäude schwankte und die Lichter in den Klassenräumen ausgingen. Über CNN erfuhren die Kinder von Shanksville, dass sie nur knapp einer Katastrophe entgangen sind. Seither ist in dem 300-Seelen-Ort am Fuße der Appalachen, wo die Zeit eingefroren schien, nichts mehr so wie früher. Die Bewohner wurden dutzendfach von Fotografen abgelichtet, von Fernsehkameras eingefangen und von eifrigen Reportern über ihr neues Dasein befragt. An der Hauptstraße, in „Ida’s Store“, sagt der Mann hinter der Theke, dass er keine Lust mehr hat, mit Journalisten zu sprechen. Das will etwas heißen im freundlichen Amerika. Immerhin bietet er jetzt italienische und französische Sandwiches an, sein Geschäft glänzt mit neuem Anstrich.

„Unserer Gegend wurde die Unschuld genommen“, sagt Linda Foster, Katelynns Mutter. Gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Kindern bewohnt sie seit 18 Jahren ein rustikales Holzhaus, zwei Kilometer vom Krater entfernt. Früher seien höchstens vier Autos am Tag am Haus vorbeigefahren, heute seien es hunderte, erzählt Linda. Früher konnte man auf diesem glücklich zurückgebliebenen Flecken, wo es auf der Speisekarte noch Gerichte unter einem Dollar gibt und die Menschen Fragen stellen wie: „Ist Deutschland jetzt eine Republik oder sind die noch sozialistisch?“, immer alle Türen offen lassen. Heute sind sie abgeschlossen. Ständig fragen Touristen und Journalisten nach dem Weg. „Wir sind es langsam leid.“ Die Fosters sind verunsichert und machen sich Sorgen, dass den Kindern etwas zustoßen könnte. Schließlich kämen jetzt so viele Fremde nach Shanksville. Man höre ja überall von Kindesentführungen. „Wir möchten ihre Sorglosigkeit so lange wie möglich bewahren“, sagt Linda beinahe flehend. Dabei war die Zahnarzthelferin noch vor einem Jahr einfach nur glücklich, dass ihren Kindern nichts passiert ist.

Dem 11. September haben die Fosters auch die frisch asphaltierte Straße zu verdanken, die von ihrem Grundstück zum „Flight 93 Memorial“ führt. Auch in den Nachbarorten laufen die Geschäfte gut. Der konstant hohe und zum Jahrestag der Anschläge anschwellende Besucherstrom lässt die Kassen klingeln. Hinter dem Tresen im „Macy’s May“ steht Colleen Cramer, 24 Jahre alt und arbeitslose Journalistin. Hier steigen ständig Medienleute ab. Sie guckt etwas skeptisch durch ihre kleine Brille – als sei sie konsterniert ob der gestellten Fragen. Wie sie sich fühle, wenn man die Ereignisse von „9/11“ hier so hautnah erlebt habe. „Wenn so etwas Shanksville passiert, kann es überall passieren“, sagt sie, „du kannst nichts mehr für selbstverständlich nehmen.“ Zurzeit mache sie sich vor allem Sorgen um ihren Bruder, der in der Luftwaffe dient, an jenem Septembertag vor einem Jahr in Saudi-Arabien stationiert war und nun nach Russland verlegt werde. Dennoch, zu Hause und mit Freunden rede sie kaum über den Krieg gegen den Terror und seine Folgen. „Ich bin kein politischer Mensch. Ich kümmere mich um meine Familie, Freunde und den Job.“ Und nein, sie könne schlecht einschätzen, ob die US-amerikanische Politik richtig sei. „Was in Washington geschieht, ist weit weg.“ Und noch weiter die Welt. Geografisch nah, innerlich jedoch ganz fern ist ihr das Mahnmal, wo sie immer noch nicht war und auch nicht hingehen wird. Das gebe ihr nichts. Hier gebe es ohnehin schon zu viel Katastrophentourismus.

46 Stars & Stripes

Landon O’Neill geht desinteressiert an all den Trauer- und Heldenutensilien vorbei und spielt mit seinem Mobiltelefon. Das Denkmal scheint den 16-Jährigen aus der Nähe von Detroit nicht besonders zu beeindrucken. Umso engagierter und nachdrücklicher erzählt seine Mutter, wie sehr die Terroranschläge das Leben aller verändert hätten. Sie blickt auffordernd zu Landon, der verschickt lieber SMS. Sie habe die wichtigen Dinge des Lebens inzwischen mehr schätzen gelernt. Doch sie sei besorgt über die wachsende Diskriminierung, gegenüber – sie zögert, sucht nach einem Begriff, für den man in Deutschland rasch „Ausländer“ sagen würde, den es hier aber nicht gibt – „arabisch aussehenden Menschen“. Überhaupt, die Leute seien insgesamt misstrauischer geworden, sie habe oft das Gefühl, jemand schaue ihr über die Schulter.

Landon drängelt. Er hat genug und will weiterfahren. Eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung wie nach Pearl Harbor hat der 11. September offenbar nicht hervorgerufen. Wohl aber einen Nationalstolz, der sich im unermüdlichen Beflaggen beweist. Allein hinter Cramers Kneipe hängen 46 Stars & Stripes.

Es gibt jedoch auch junge Leute, für die waren die Anschläge zumindest der Impuls für Lebensentscheidungen. Jessica Marovich aus Philadelphia etwa möchte später unbedingt beim FBI oder bei der CIA arbeiten. Sie hat begonnen, Kriminologie zu studieren. Die junge College-Studentin ist mit ihrer Großmutter, für die ein Besuch in Shanksville eine patriotische Bürgerpflicht ist, gekommen. Das Leben fühle sich heute nicht viel anders an als vorher, sagt Jessica, nachdem sie eine Weile überlegt hat, was sich geändert haben könnte. Warum die Terroristen Amerika hassen? Darüber habe sie sich noch keine Gedanken gemacht. „Vielleicht weil wir so erfolgreich sind.“ Aber eigentlich verfolge sie kaum die Nachrichten und interessiere sich nicht für Außenpolitik. Vielleicht später, wenn sie für die Regierung arbeitet, sagt sie.

United We Stand

Wo Marovich heute steht, werden am 11. September vormittags 30.000 Gäste erwartet. Auch der Präsident soll nun endlich kommen. Genaues wisse man zwar noch nicht, sagt Bürgermeister Ernest Stull, aber man habe aus sicherer Quelle erfahren, dass George und Laura Bush zwischen den Zeremonien in Washington und New York in Shanksville landen werden.

Der Mann mit dem schlohweißen Haar und der rechteckigen Brille ist 78 Jahre alt. Auf seinem blauen Hemd steht in beiger Schrift aufgestickt „United We Stand“. Stolz erzählt er, dass der Kongress in Washington noch nie so schnell eine nationale Gedenkstätte beschlossen habe wie die in seinem Dorf. Gelassen sitzt er auf seiner Veranda mit Blick auf bewaldete Hügel und die alte Mühle im Ort, von deutschen Siedlern erbaut. Die vielen Pilger und die Aufregung um den Präsidentenbesuch stören ihn nicht. Der Mann hat anderes erlebt. Er war als Soldat beim Sturm der Alliierten auf die Normandie dabei, wurde in Belgien schwer verwundet. Stull schaut in die Höhe und sagt, dass hier, am Himmel über Shanksville, der neue Krieg begonnen hat. Einen alten Kämpfer wie ihn, der noch in den Schützengräben gelegen hat, irritiert dieser Krieg jedoch: Der Feind ist unsichtbar und kann überall sein. Selbst hier in Shanksville. „Wir werden niemals mehr das verschlafene Nest sein, das wir einmal waren.“

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