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Auf der Erde gelandet

„Next“, die 8. Internationale Architektur-Biennale in Venedig, wendet sich ab vom New Urbanism und den Fantasien virtueller Architektur. Sie zeigt Mut zum Experiment. Doch es fehlen planerische Aussagen zur Globalisierung, zu den Megacitys der Dritten Welt und zum Notstand des öffentlichen Raums

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Im Auge des Hurrikans herrscht gespenstische Stille. Venedig lehrt das derzeit auf seine Weise und die achte Internationale Architektur-Biennale im Besonderen. Die Stadt brüllt, und mittendrin, in den touristisch abseitigen Stadtvierteln, schläft das Leben. „Next“, schreit der Titel der Mostra di Architettura auf dem Ausstellungsgelände Giardini und im Arsenal, als wollte man das leise Motto der Biennale 2000 „Mehr Ethik – weniger Ästhetik“ vergessen machen. Doch während sich zur Eröffnung am Wochenende die internationale Architektenschaft für ihre Projekte feiern ließ und das Publikum die Wege zu den Modellen verstopfte, blieb es im amerikanischen Ausstellungspavillon manchmal wie totenstill – obwohl kaum Neues gezeigt wurde. Mehr noch, die Bilder sind hunderttausendfach bekannt.

Joel Meyerowitz’ Fotos von „Ground Zero“ hängen dort neben den Architekturmodellen zum Wiederaufbau des am 11. September zerstörten World Trade Centers. Man mag über Projekte sich in den Himmel quälender Hochhäuser, mal geborsten-dekonstruktivistisch wie bei Daniel Libeskind, mal als Feuerzungen inszeniert wie bei NOX-Architekten, sprachlos sein. Auch darüber, dass US-Ausstellungskommissar Rober Ivy in peinlicher Betroffenheitsästhetisierung einen halb geschmolzenen Stahlträger des WTC wie eine antike Säule vor dem Gebäude platziert hat.

Wahrhaft stumm bleibt man dagegen vor den Fotos von Meyerowitz angesichts ihrer sakralen Monumentalität und einer bizarren Dokumentation der Verwüstung. Der Fotograf kam erst Tage nach der Katastrophe zu den Resten des WTC, ließ aus der Menschenmenge heraus die Kamera klicken und wurde barsch von einer New Yorker Polizistin abgewiesen: „No photographs, this is a crime scene.“ Meyerowitz gelang es dennoch, immer wieder von Verweisen unterbrochen, die Ruinenlandschaften, Bergungen und Aufräumarbeiten in der „verbotenen Stadt“ festzuhalten und Bilder zerstörter Architektur und städtischen Lebens jenseits des patriotistischen Mainstreams aufzunehmen. Man kann mit viel gutem Willen auch für den amerikanischen Beitrag den Titel „Next“ und damit die konzeptionelle Frage gelten lassen, was das „Nächste in der Architektur für die kommenden zehn Jahre“ ist, wie Franco Bernabè, der Präsident der Gesamt-Biennale, die Richtung vorgab. Der Blick zurück (was ist Geschichte, was gilt nicht mehr), nach vorn (was kommt, was wird) ist selbst im US-Pavillon eingelöst – auch wenn die Exponate auf dieser Mostra „weniger artistische Phänomene“ (wie die WTC-Modelle) als vielmehr die „praktischen technologischen Herausforderungen“ in der Architektur zum Vorschein bringen sollen. Wer etwas Neues entwerfen will, braucht erst einmal die Distanzierung. Noch vor Jahren feierte man in Venedig sich und den Glauben an die hochtechnologische und architektonische Vision als ein Allheilmittel gegen die baulichen, ökologischen, kulturellen und sozialen Sünden in den Metropolen. Zugleich flüchteten sich die Baumeister – weg vom Reißbrett – ins Virtuelle, an den Computer, in Weltraumentwürfe und irre Zukunftspläne, fern jeder Realität. Wenn die Erde sowieso nicht zu retten ist, so die Aussage zur Jahrtausendwende, fliegen wir am besten ins All.

2002 ist die Architektenschaft wieder auf der Erde gelandet. Schaut man sich heute die Beiträge in den rund 40 Länderpavillons an, stößt man mehrheitlich auf eine ethische Zäsur und eine mutige Abgrenzung zur Last der Geschichte sowie zur Investoren- und Neuen-Urbaniten-Architektur am Ende des 20. Jahrhunderts. Man glaubt wieder an sich und das Bauen und gibt sich zugleich weniger ernst. Das Utopiedefizit macht nicht Bange. Im Gegenteil: Es befreit.

Es ist lange her, dass sich die eitle Architektenschaft mit ihren Projekten ironisch, mutig und spielerisch, ja mit Lust an der Selbstkritik zu Wort gemeldet hat. Venedig 2002 erlaubt sich die Renaissance dieser Tradition, die in den 70er-Jahren mit den Anfängen der Postmoderne einmal en vogue war.

In der Mitte des Ausstellungsgeländes beginnt die spielerische Distanzierung mit dem Projekt „Lonely Living“. 20 italienische Architekten haben dort 18 begehbare Räume mit Singlewohnungen samt Bett, Stuhl und Tisch aufgebaut und machen sich über die monotonen Architekturklischees der „Ich-AG“ lustig – denn nichts ist bekanntlich so schön wie eine künstliche, blöde, unerotische und unsinnliche Wohnmaschine!

Auf Distanz zu den Siedlungsträumen aus schmucken Reihenhäuschen und netten Interieurs, wie sie in den Gated Communities des New Urbanism zu finden sind, gehen auch der japanische und belgische Pavillon. Arata Isozaki (Tokio) und seine Architektengruppe machen sich per Modelle über die spießigen Kücheneinrichtungen ihrer japanischen Mitbürger her und präsentieren auch – mit großem Ernst – ihre neuesten Bauten in Asien. Diese haben sich entfernt vom Muff und der Enge peripherer Reihenhäuser und feiern eine „zweite Moderne“ mit lässiger Geste: etwa ein Wohnhaus in Kurakuen (von Waro Kishi) oder die Siedlung Boao Canal Village (von Seung Hchion-Sang), deren Riegel sich wie hochgestellte Dominosteine in die Topografie der Landschaft einfügen und die Traditionen leichter asiatischer Baukultur widerspiegeln.

Im lustigen Biennnale-Spiel mit der Architektur scheinen die Architekten zudem etwas wiederentdeckt zu haben, was die letzten Jahre ebenfalls verpönt war: das Experiment. Man zeigt wieder Mut und Ungewöhnliches – aber auch das Unmögliche – in der Baukunst und beim Städtebau. Spanische Architekten bekennen sich zu „inneren Landschaften“, indem sie über Videos ihre Träume – etwa von renaturierten Städten wie Madrid und Sevilla – über den Boden flimmern lassen, der ganzflächig mit einer Reproduktion von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ ausgelegt wurde. Im französischen und tschechischen Gebäude werden neokonstruktivistische Architekturskulpturen im Stil der russischen Avantgarde präsentiert. Und wer sich in die bauliche Welt am Ende des 21. Jahrhunderts beamen möchte, wird im Schweizer „Hormonorium“ von Philippe Rahm und Jean-Gilles Décosterd genau dorthin geschickt.

Wohnlich ist es dort nicht, denn in der abgeschlossenen künstlichen Zelle stößt unsere Wahrnehmung an eine physische Grenze. Zunächst spürt der Besucher nur unerträgliche Helligkeit und keinen Halt, weil die Konturen verschwimmen, haben doch die Architekten den Raum mit 10.000 Lux geladen. In der Brust spürt man einen Druck, denn Rahm und Décosterd passten den Luftdruck dem in mehreren tausend Meter Höhe an. Der Sauerstoffanteil ist von 21 auf 14 Prozent herabgesetzt. Kranke sollten das Experiment einer Grenzerfahrung am Ende der Welt meiden – und Architekten die bauliche Vision am Gefrierpunkt ebenso.

Wäre in der Folge das Neue in „Next“ etwa so präsentiert worden wie im finnischen oder besonders im brasilianischen Pavillon (wo am Beispiel der Favelas kleine, praktische, zugleich wunderbare sowie realistische Sanierungsprojekte mit großer Wirkung und mit den Bewohnern durchgeführt wurden), „Next“ hätte eine programmatische Schau für das 21. Jahrhundert werden können. Doch das Konzept von Biennale-Chef Deyan Sudjic im anderen Ausstellungsort Arsenal lässt genau das „Nächste“ für Architekten, Landschaftsplaner, Umweltexperten und Bewohnern außen vor. Es fehlen planerische Aussagen zur Globalisierung, zum Thema Nachhaltigkeit, zu den Brennpunkten der Megacitys in Asien, Afrika und Lateinamerika, zum Bildungsnotstand und zum Notstand des öffentlichen Raums. Statt den kritischen Diskurs über Architektur wie in den Pavillons fortzusetzen, sich wieder dem Raum, baulichen Experimenten, zukünftigen Leitlinien und Strategien oder neuen Formen der Beteiligung zuzuwenden, macht „Next“ hier den Rückzieher.

Sicher, eingelöst hat Sudjic mit der Präsentation von über hundert Projekten zu den Themen neues Wohnen, Schul- und Museumsarchitekturen, Dienstleistungs- und Kirchenbauten oder Flughäfen den Anspruch, statt Verrücktheiten im All (wie noch 2000) „wieder Architektur“ zu zeigen. Zweifellos erfüllen die Arsenal-Exponate auch vieles in der aktuellen Architekturdebatte: mehr Qualität mit hoher Funktionalität statt billiger Investorenprojekte, gute Materialien statt Plastik und schnell alternder Produkte vom Baumarkt, lebendige-organische Formen statt Kästchendenken, das Einzelprojekt Haus statt städtischer Allerweltsarchitektur. Die Baumeister besinnen sich wieder auf ihre Ursprünge.

Die Leistungsschau der großen Namen – von Jean Nouvel (Museum in Perigueux) über SOM (Flughafen in Singapur) und Zaha Hadid (Wissenschaftszentrum Wolfsburg) bis hin zu Peter Eisenman (Kulturzentrum in Santiago de Compostela) hat nur einen Haken: Anstelle des Marketings für Superstars hätte man sich zum einen jenen tiefen Einblick in das Nächste und Neue etwa von David Chipperfields, Peter Zumthors oder Sauerbruch/Huttons Museums- beziehungsweise ökologischen Baukonzepten gewünscht.

Zum anderen hebt am Ende im Arsenal die 8. Architektur-Biennale wieder ab ins neue Babylon. Als wären in Erinnerung an den 11. September nicht nur in New York, sondern weltweit waghalsige Türme wieder zu errichten, feiert die Ausstellung mit riesigen Modellen das Hochhaus als Zukunftsvision. Lord Foster, Hans Hollein, Richard Rogers und Dominique Perrault dürfen hier ihre spitzen Türme, steinernen Dildos und Raketenbauten aufsteigen lassen.

Als ginge es im Ranking der Weltarchitektur immer um dasselbe, nämlich um die Sensation, vollführt die Schau der Architekten wieder einen Bildersturm. Der bauliche Hurrikan tobt weiter in Venedig, die wichtige Ruhe für das „Nächstliegende“, wie die deutsche Kuratorin Hilde Léon sagte, hat sich die Biennale nicht genommen.

„Next“: bis 3. November 2002 Die zwei Kataloge kosten zusammen 60 Euro

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