: Speisemorcheln gesucht
Pilzesammeln ist eine Wissenschaft und vor allem ein Geheimnis. Verfolger werden in die Irre geführt, damit niemand die Ernte einfährt, die einem selber zusteht. Ein nervenaufreibendes Hobby
von MICHAEL RUDOLF
Wenn das mildtätig feuchte Wetter eine Zeitlang zu mildtätig feucht gewesen ist, reicht es den Myzelsträngen nicht, dass sie Wald-, Park-, Wiesen- oder Ruderal-Böden wundersam unterkellern. Sie lassen ihre Fruchtkörper wie Pilze aus dem Boden schießen: millionen und abermillionen Röhrlinge, Hell- und Dunkelblättler, Becherlinge und Leistlinge.
Da dürfen wir nicht wegschauen. Lieber sollten wir diese nussig-aromatischen Geschmacksverstärker einsammeln und in gut ausgepolsterten Kartons behutsam nach Hause tragen, damit unsere Bratpfannen Arbeit bekommen und die Benutzeroberflächen unserer Gaumen auch.
Am besten, wir bilden beherzte Suchgemeinschaften, die dann in Waldlichtgeschwindigkeit zu beherzten Suchtgemeinschaften werden. Speisemorchel, Perigordtrüffeln, Herbsttrompeten, Parasole, Grüngefelderte Täublinge, Kaiserlinge, Perlpilze, Hexenröhrlinge, Scheidenstreiflinge, Krause Glucken, Edelreizker oder Knoblauchschwindlinge sind Gewächse wie aus dem Märchenbuch. Ihr Myzel ist ein weißliches, Fäulnis liebendes, teils saprophytisch, teils symbiotisch mit Bäumen, teils parasitisch lebendes Geflecht.
Nahezu fünfzigtausend Arten kennt die Wissenschaft weltweit, höchstens einhundert bis einhundertfünfzig davon erlangen durch meist thermische Behandlung speiseplanerische Bedeutung. Etwa einhundert agieren toxisch, sechs bis acht letal. Genießbar sind die Pilze, die am wenigsten giftig sind, heißt es. Das aber muss nicht sein, warum bringen sonst so viele ihre Leber mit dem champignonähnlichen Knollenblätterpilz um die Ecke?
Und warum gehen wir eigentich immer Pilze suchen? – Wir gehen Pilze finden, sagt niemand. Das liegt wohl am Jagdinstinkt, der sich uns erhalten hat. Ein untrügliches beziehungsweise trügerisches Relikt unseres früheren Daseins als Sammler und Jäger. Sicher, es heißt bisweilen auch: Wir gehen Pilze sammeln. Aber die Kardinalpunkte einer Jagd werden überzeugend genug erfüllt. Vom zum Teil unchristlich frühen Aufstehen, dem Anlegen waid- und waldgerechter Kleidung (feste Jacken und Hosen, Stetson und Stiefel), der Bewaffnung (Fahrrad und Taschenmesser), dem konspirativen Ausschwärmen in Topografien, die angeblich nur einem Jäger und Sammler geläufig sind, dem überfallartig einsetzenden Sammel-, besser: Jagdfieber und der obligatorischen, allerdings selten angemessen objektiven Manöverkritik, die das erfahrene Erhabene bald ins tosend Profane hinabzieht.
Der Reiz des Suchens ist nicht das Finden, sondern das Suchen selber. Der Weg ist das Ziel. Leider kann man dabei kaum auf hinreichende Sicherheiten bauen. Zwar kennt jeder Laie einige botanische Standardgewächse, doch sind dies Menschen, die höchstens Rotkappe, Steinpilz, Champignon und Pfifferling kennen. Aber die Laien sind ja immer die anderen. Und sie sind ungeliebte Jagdkonkurrenten.
Gegen menschliche Jagdkonkurrenten können wir komplexe Ablenkungsmanöver austüfteln: betont unwaldliche Kleidung anlegen, Umwege zum Stammwald fahren und ständig unauffällig nach Verfolgern spähen. Im Wald notfalls Zickzack fahren oder bei der nächsten Weggabelung links die Hand raushalten und rechts abbiegen. Gräben um den ganzen Wald ziehen, Zäune aufrichten, Fallgruben und Fußeisen aufstellen.
Gegen Schnecken und Maden allerdings sind wir machtlos. Sie sind immer schneller. Zunächst fräsen die Schleimwürste erbarmungslos – nachdem sie den Stiel verschwörerisch per Räuberleiter emporgehangelt sind – den Hut konzentrisch ab und lassen allenfalls ein skelettiertes Rudiment stehen. Die Maden labyrinthisieren den Fruchtkörper von innen so geschickt, dass er eben nicht zusammenstürzt. Vor Zorn möchten wir die Fraßruinen mit einer uneleganten Bogenlampe durch die würzige Waldluft kicken. Aber schon hat uns die Hoffnung wieder, doch noch irgendwo auf einen Schatz zu stoßen. Und die Suche geht weiter.
Stundenlang werden im lokomotorischen Taumel sämtliche Reviere durchkämmt, Schongebiete gierig durchstreift, im Moos wird gestochert, jedes Blatt, jede Kiefern-, jede Fichtennadel einzeln umgewendet, selbst die Wegränder werden geduldig mit der Lupe nach unversehrten Exemplaren abgesucht.
Uns hatte es heuer schlimm erwischt. Wo die Fichtennadelstreifen sich ins rechte Waldlicht rückten, wollte die Natur mit ihrer Herbstkollektion an Steinpilzen prahlen. Die mischbrotfarbenen Hüte mit optimaler Körbchengröße, die Röhren weiß und fest wie feinster Zigarettenfilter, die verführerisch mandelnougatfarbenen Beine mit eleganten Netzstrumpfhosen in Crème angetan. Die raffiniert platzierten Schönheitsflecken von eigens engagierten Designerschnecken hineingefressen. Fast hielten wir sie für Kunstprodukte, exklusiv entworfen.
So sahen wir plötzlich den Wald vor lauter Pilzen nicht mehr. Hatten wir die ersten gefunden, war ans Aufhören nicht mehr zu denken; obwohl die Knie eitrig gescheuert waren, die Gesichter von Spinnennetzen und die Hände von Harz verklebt. Auf den Köpfen sprossen mehr Tannennadeln als Haare, der Rest der geschundenen Körper wurde von übermütigen Holzböcken und gewaltbereiten Stechmücken behagelt.
Wieder daheim werden beim Hochleistungsputzen nun die Abende lang. Es gibt keinen Fingerbreit mehr in der Behausung, der nicht mit trocknenden Pilzen ausgelegt ist. Die Verwahrlosung der Oberbekleidung nimmt Ausmaße an, die nicht geeignet sind, sich dem Urteil einer städtischen Öffentlichkeit auszusetzen. Unsere Bekannten und Verwandten brechen zu dieser Jahreszeit diplomatisch ihre Beziehungen zu uns ab, und das unfreiwillige Einsiedlertum treibt uns ins soziale Nichts.
Die Friedensgespräche mit Nachbar- und Verwandtschaft kommen erst dann wieder zögerlich in Gang, wenn wir sie vor einem unparteiisch köstlichen Pilzgericht an den Verhandlungstisch laden. Pilzpulver, Pilzsuppe, gebraten oder als Füllung, sauer, süßsauer, eingesalzen, blanchiert, vinifiziert, milchvergoren oder als Extrakt. Da wird doch sicher für jeden etwas dabei sein. Wohl bekomm’s.
Michael Rudolf ist Autor des Buches „Hexenei und Krötenstuhl. Ein wunderbarer Pilzführer“, Reclam Leipzig, 176 Seiten, 51 Abbildungen, 11,50 €.
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