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Der letzte Stein

Man muss immer mit Halluzinationen rechnen: Sebastian Hartmann konfrontiert Gedanken des ertrinkenden Pincher Martin im Neuen Cinema mit filmisch festgehaltenen Hamburger Satzfetzen

von ANNETTE STIEKELE

Ein Mann allein auf der Bühne, die das Wasser ist. Nur er und der Felsen. „Ich will nicht sterben!“, brüllt er, doch es nützt ihm wenig. Ist er schon tot oder noch am Leben? Gibt es den Felsen oder ist alles Einbildung? Entscheidend ist, was er in diesem Moment des Hinübergleitens denkt. In einem langen Augenblick trifft alles zusammen, Angst, Schuld, Gier nach Leben, Erinnerung, Lust, Eifersucht und bittere Wahrheit. Das Sein und das bedrohliche Nichts. Der Atlantik ist weit, auch wenn er in der Videoanimation von Sebastian Hartmann eher an den Ostseestrand erinnert.

Im Neuen Cinema spülte der Regisseur jetzt eine Uraufführung nach der Romanvorlage Pincher Martin von William Golding auf die Bühne, großteils auch auf die Leinwand. Erneut präsentiert sich Hartmann als großes Kind der Berliner Volksbühne, das sein Spielzeug mal liebkost, mal gegen die Wand schleudert. Die Textfassung, die er gemeinsam mit Brigitte Auer gezimmert hat, kapriziert sich auf die wenigen gesprochenen Schlüsselstellen des Romans. Das ist sinnvoll, denn die Vorlage ergeht sich in seitenlangen Beschreibungen von Wasser, Schilf, Möwen und den vielen Halluzinationen des schiffbrüchigen Marineoffiziers Christopher Hadley Martin, kurz „Pincher Martin“.

Auf der Flucht vor der Schauspielerei und einer schwierigen Liebe floh er in den Kriegsdienst des Zweiten Weltkrieges und riskiert sein Leben, als er versucht, seinen Freund und Nebenbuhler Nathanael auszuschalten. Ein Torpedoangriff kommt ihm zuvor, das Schiff samt Mannschaft ist dahin, und jetzt krallt er sich an das letzte Stück Leben, das dieser kalte Stein ist. Im Roman heißt es „Reden ist Identität“. Und so versucht auch Guido Lambrecht als Pincher dem Schrecken, diesen Felsen womöglich nie mehr zu verlassen, mit langen Wortschwällen zu begegnen, die nach und nach austrocknen. Und plötzlich ist da ein zweiter Mann. „Gib es auf“, murmelt Thomas Lawinky, mal Stimme der Resignation, böser Geist, dann wieder Nathanael, später der Regisseur in Pinchers früherer Kompanie.

In dieser Anfangssequenz tragen die beiden Schauspieler das dürre Skelett des Textes als Gegensatzpaar: Lambrecht mit weit aufgerissenen Augen und wirrem Haar, pure Angst. Er muss Wasser besorgen, Seetang trocknen und schlafen, schießt es ihm durch den Kopf. Lawinky raubt ihm eiskalt die Hoffnung.

Zwischendurch geben beide den Blick frei auf die Leinwand, wo Hartmann einer Schar Passanten irrwitzige Vokabeln in den Mund gelegt hat: „Schon jetzt muss ich mit Halluzinationen rechnen“, „Ich muss Rettung fordern“. Solche Gedanken plagen den gestrandeten Offizier. Aber immerhin, Pincher Martin hat noch Vertrauen: „Ich werde gerettet werden“, schreit er, und „ich bin der ich war“. Doch er ist nicht mehr Christopher, der biblische Christusträger, sondern längst schon einer, der sich mit letzter Kraft festkrallt, besessen von einer unbestimmten Gier, und panischer Angst vor dem „schwarzen Blitz“.

Stellenweise gelingt es Hartmann an diesem Abend, den zähflüssigen Romanstoff aufzubrechen, ihm Lebendigkeit einzuhauchen. Die rasant hininszenierten Szenen gelingen ihm am besten. Dazwischen breitet sich oft Langatmigkeit aus. Oder die Dramaturgie ertrinkt in nöligem Antispiel. Am Ende muss Lambrecht einen Monolog so konzentriert in Zeitlupe sprechen, dass ihm der Schweiß nur so tropft. Dann beginnt „sein Leben neu“. Doch da ist er lange schon ins Zwischenreich entschwunden. „Zwischen dem Tod und dem richtigen Himmel.“ Um die „reine Negation“ Goldings zu vermitteln, beschließt Hartmann das Existenzdrama mit einem sprechenden Plüschpapagei.

Weitere Vorstellungen: 27.+28. 9., 18.-20.10., jeweils 20 Uhr, Neues Cinema

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