h. g. hollein: Ansprüche
Die Frau, mit der ich lebe, neigt dazu, hinter die Dinge zu blicken. So fragt sie sich seit ein paar Tagen, warum der Schröder eigentlich die ganze Wahlnacht hindurch so locker geguckt hat. „Der wusste, wie's ausgeht!“ mutmaßt die Gefährtin und liefert auch gleich die Erklärung. Vor vier Jahren zog der Kanzler noch als „Sohn der Kriegerwitwe“ in die Wahlschlacht. Davon war diesmal wenig zu hören. Verdächtig wenig, dabei ist der „Sohn der Witwe“ in der Freimaurerei kein Geringerer als Hiram, der Baumeister des salomonischen Tempels. Damit ist die Gefährtin ganz fix bei der Bundeslade und etlichen anderen Gadgets, die der große Demiurg zwecks späterer Erringung der Weltherrschaft vorsorglich irgendwo verbunkert haben soll. Da wären der Gral, das Grab Gottes und als Zugabe immer mal wieder gern genommen: der Templerschatz. All diese Urquellen der Macht vermuten Eingeweihte irgendwo in der Umgebung von Rennes-le-Chateau am Fuß der Pyrenäen. Und eben dorthin pilgerte der Sohn der Witwe während eines Frankreichbesuches vor ein paar Jahren. Was kann er dort – an diesem Schnittpunkt von Kraftlinien und spirituellen Energien – erfahren haben, das ihn so siegessicher aussehen ließ? Doch wohl nur, dass die Macht mit ihm sein wird. Und nichts anderes als diese Gewissheit kann es gewesen sein, die den Kanzler sich erkühnen ließ, jenen anderen Hüter der Macht in der neuen Welt herauszufordern, der seine Bestimmung wiederum von George Washington herleitet, dessen Freimaurertum noch heute das Auge in der Pyramide auf den Ein-Dollarscheinen weltumspannend verkündet. Damit ist natürlich auch der wahre Grund gefunden, weshalb George Bush – da klingt selbstverständlich der göttliche Dornbusch an – auf den Prätendenten aus der alten Welt sauer ist. Findet zumindest die Gefährtin.
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